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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Grund hiervon in der Lage der Naturwissenschaften.

Die Physik der Erde war in den ersten Anfängen geblieben
und wurde nicht auf die Erklärung der Phänomene der Gestirn-
welt angewandt, weder die Hilfsmittel der Rechnung noch die Kunst
des Instruments schlugen eine Brücke von den Ereignissen auf der
Erde zu denen jenseits im Weltraum, die Schwere wurde als eine
terrestrische Thatsache aufgefaßt, Veränderungen waren noch an
keinem Punkte als jenseits der irdischen Atmosphäre im Weltraum
vorhanden nachgewiesen, und diese Sonderung der Welt himm-
lischer Körper von der unter dem Monde wurde zu einer vor-
stellungsmäßigen, räumlichen Vergegenwärtigung des großen Ge-
gensatzes benutzt, in welchem das Christenthum allen irdischen
Wandel und alle irdische Unvollkommenheit dem gegenüber erblickt,
was nicht von dieser Welt ist. Die Bedeutung dieser astrono-
mischen Transscendenz für den Geist des mittelalterlichen Menschen
zeigt Dantes kosmisches Gedicht, dessen drei Theile nicht zufällig,
ein jeder in anderer Wendung, mit einem anderen Ausblick auf den
Sternenhimmel schließen, der letzte mit den berühmten Worten:
l'amor che muove il sole e l'altre stelle.

Der Schluß selber ging von der Gleichförmigkeit der Be-
wegungen am Himmel und ihrer Zweckmäßigkeit, vermittelst deren
der ganze Haushalt der irdischen Welt bis zum Menschen hinauf
geregelt wird, auf eine vollkommene und geistige Wesenheit.
Er beruhte bei den meisten Scholastikern auf der astronomi-
schen Konstruktion, die sie in ihrem Aristoteles fanden, seltener
auf der, welche sie aus Ptolemäus schöpften. Bald bediente
dieser Schluß sich des Hilfssatzes, den Anaxagoras, Plato und
Aristoteles anwandten, daß jede Bewegung eines Körpers im
Raume eine Bewegungsursache außerhalb desselben voraussetze,
bald der Unterscheidung der Bewegungen auf der Erde, welche
gradlinig sind und in einem Ziele zur Ruhe kommen, von denen

dem Verhältniß des Möglichen, das sein kann, doch nicht zu sein braucht,
entsteht, sich verändert und vergeht, zu dem Nothwendigen (der spätere Be-
weis a contingentia mundi), aus dem Verhältniß der Grade in den Dingen
zu einem Absoluten, aus der Zweckmäßigkeit. Hiermit vgl. Duns Scotus
in sent. I dist. 2 quaest. 2.
Grund hiervon in der Lage der Naturwiſſenſchaften.

Die Phyſik der Erde war in den erſten Anfängen geblieben
und wurde nicht auf die Erklärung der Phänomene der Geſtirn-
welt angewandt, weder die Hilfsmittel der Rechnung noch die Kunſt
des Inſtruments ſchlugen eine Brücke von den Ereigniſſen auf der
Erde zu denen jenſeits im Weltraum, die Schwere wurde als eine
terreſtriſche Thatſache aufgefaßt, Veränderungen waren noch an
keinem Punkte als jenſeits der irdiſchen Atmoſphäre im Weltraum
vorhanden nachgewieſen, und dieſe Sonderung der Welt himm-
liſcher Körper von der unter dem Monde wurde zu einer vor-
ſtellungsmäßigen, räumlichen Vergegenwärtigung des großen Ge-
genſatzes benutzt, in welchem das Chriſtenthum allen irdiſchen
Wandel und alle irdiſche Unvollkommenheit dem gegenüber erblickt,
was nicht von dieſer Welt iſt. Die Bedeutung dieſer aſtrono-
miſchen Transſcendenz für den Geiſt des mittelalterlichen Menſchen
zeigt Dantes kosmiſches Gedicht, deſſen drei Theile nicht zufällig,
ein jeder in anderer Wendung, mit einem anderen Ausblick auf den
Sternenhimmel ſchließen, der letzte mit den berühmten Worten:
l’amor che muove il sole e l’altre stelle.

Der Schluß ſelber ging von der Gleichförmigkeit der Be-
wegungen am Himmel und ihrer Zweckmäßigkeit, vermittelſt deren
der ganze Haushalt der irdiſchen Welt bis zum Menſchen hinauf
geregelt wird, auf eine vollkommene und geiſtige Weſenheit.
Er beruhte bei den meiſten Scholaſtikern auf der aſtronomi-
ſchen Konſtruktion, die ſie in ihrem Ariſtoteles fanden, ſeltener
auf der, welche ſie aus Ptolemäus ſchöpften. Bald bediente
dieſer Schluß ſich des Hilfsſatzes, den Anaxagoras, Plato und
Ariſtoteles anwandten, daß jede Bewegung eines Körpers im
Raume eine Bewegungsurſache außerhalb deſſelben vorausſetze,
bald der Unterſcheidung der Bewegungen auf der Erde, welche
gradlinig ſind und in einem Ziele zur Ruhe kommen, von denen

dem Verhältniß des Möglichen, das ſein kann, doch nicht zu ſein braucht,
entſteht, ſich verändert und vergeht, zu dem Nothwendigen (der ſpätere Be-
weis a contingentia mundi), aus dem Verhältniß der Grade in den Dingen
zu einem Abſoluten, aus der Zweckmäßigkeit. Hiermit vgl. Duns Scotus
in sent. I dist. 2 quaest. 2.
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[389/0412] Grund hiervon in der Lage der Naturwiſſenſchaften. Die Phyſik der Erde war in den erſten Anfängen geblieben und wurde nicht auf die Erklärung der Phänomene der Geſtirn- welt angewandt, weder die Hilfsmittel der Rechnung noch die Kunſt des Inſtruments ſchlugen eine Brücke von den Ereigniſſen auf der Erde zu denen jenſeits im Weltraum, die Schwere wurde als eine terreſtriſche Thatſache aufgefaßt, Veränderungen waren noch an keinem Punkte als jenſeits der irdiſchen Atmoſphäre im Weltraum vorhanden nachgewieſen, und dieſe Sonderung der Welt himm- liſcher Körper von der unter dem Monde wurde zu einer vor- ſtellungsmäßigen, räumlichen Vergegenwärtigung des großen Ge- genſatzes benutzt, in welchem das Chriſtenthum allen irdiſchen Wandel und alle irdiſche Unvollkommenheit dem gegenüber erblickt, was nicht von dieſer Welt iſt. Die Bedeutung dieſer aſtrono- miſchen Transſcendenz für den Geiſt des mittelalterlichen Menſchen zeigt Dantes kosmiſches Gedicht, deſſen drei Theile nicht zufällig, ein jeder in anderer Wendung, mit einem anderen Ausblick auf den Sternenhimmel ſchließen, der letzte mit den berühmten Worten: l’amor che muove il sole e l’altre stelle. Der Schluß ſelber ging von der Gleichförmigkeit der Be- wegungen am Himmel und ihrer Zweckmäßigkeit, vermittelſt deren der ganze Haushalt der irdiſchen Welt bis zum Menſchen hinauf geregelt wird, auf eine vollkommene und geiſtige Weſenheit. Er beruhte bei den meiſten Scholaſtikern auf der aſtronomi- ſchen Konſtruktion, die ſie in ihrem Ariſtoteles fanden, ſeltener auf der, welche ſie aus Ptolemäus ſchöpften. Bald bediente dieſer Schluß ſich des Hilfsſatzes, den Anaxagoras, Plato und Ariſtoteles anwandten, daß jede Bewegung eines Körpers im Raume eine Bewegungsurſache außerhalb deſſelben vorausſetze, bald der Unterſcheidung der Bewegungen auf der Erde, welche gradlinig ſind und in einem Ziele zur Ruhe kommen, von denen 1) 1) dem Verhältniß des Möglichen, das ſein kann, doch nicht zu ſein braucht, entſteht, ſich verändert und vergeht, zu dem Nothwendigen (der ſpätere Be- weis a contingentia mundi), aus dem Verhältniß der Grade in den Dingen zu einem Abſoluten, aus der Zweckmäßigkeit. Hiermit vgl. Duns Scotus in sent. I dist. 2 quaest. 2.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/412>, abgerufen am 22.11.2024.