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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Das Mittelalter bildet ihn fort.
Ordnung fordert Strafen, diese treten aber im Diesseits nicht
regelmäßig ein; wir finden in uns ein natürliches Streben nach
Glückseligkeit und dieses muß zur Befriedigung gelangen; aus dem
teleologischen Zusammenhang der Welt in Gott folgt, daß die
Schöpfung in ihr Prinzip zurückkehren muß, und wie sie von
dem göttlichen Intellekt ausging, erreicht sie in geistigen Wesen
ihren Abschluß1).

Die Beweiskraft des Schlusses auf den Bestand immaterieller
Substanzen ist während des Mittelalters unerschüttert geblieben.
Denn die dogmatischen Naturbegriffe der mittelalterlichen Meta-
physiker boten ein Fundament für die Folgerung auf ein von der
Natur unterschiedenes Geistige. Dagegen ist der weitere Schluß auf
die individuelle Fortdauer der Einzelseelen schon von mittelalter-
lichen Denkern als unhaltbar erkannt worden. Wie im Morgen-
lande Ibn Roschd die individuelle Unsterblichkeit in Frage stellte,
so gingen auch im christlichen Abendlande Amalrich von Bena und
David von Dinanto, wahrscheinlich unter dem Einfluß arabischer
Lehren, zur Leugnung der persönlichen Fortdauer fort. Und
zwar zogen sie die Konsequenz der Vernunftwissenschaft, wenn sie
in dem Sein, das dem höchsten Begriff entspricht, die Diffe-
renzen der Gattungen, Arten und Individuen gleichsam nur ein-
gezeichnet vorstellten und so jedes Einzeldasein ihnen nur die vor-
übergehende Modifikation derselben Substanz war. Und Duns
Scotus bedient sich zwar einer der oben dargelegten verwandten
Betrachtungsweise, um jede Art materialistischer Vorstellung abzu-
wehren, aber er erkennt bereits nicht mehr an, daß die individuelle
Fortdauer aus ihr folge2).

Das Mittelalter hat, entsprechend seinem geringeren Interesse
für die wissenschaftliche Durchbildung der Begriffe von der Wirk-

1) Thomas contra gentil. II c. 46 p. 192a.
2) Ueber Amalrich von Bena und David von Dinanto Haureau
histoire d. l. phil. scol. II, 1 p. 73 ff., vgl. oben S. 386 f. -- Die wichtige
Bestreitung der Beweisbarkeit persönlicher Fortdauer, wie sie
Duns Scotus in die christliche Scholastik einführte, vgl. bei Duns Scotus
reportata Paris. l. IV dist. 43 und die entsprechende Darstellung in sent.
Dilthey, Einleitung. 26

Das Mittelalter bildet ihn fort.
Ordnung fordert Strafen, dieſe treten aber im Dieſſeits nicht
regelmäßig ein; wir finden in uns ein natürliches Streben nach
Glückſeligkeit und dieſes muß zur Befriedigung gelangen; aus dem
teleologiſchen Zuſammenhang der Welt in Gott folgt, daß die
Schöpfung in ihr Prinzip zurückkehren muß, und wie ſie von
dem göttlichen Intellekt ausging, erreicht ſie in geiſtigen Weſen
ihren Abſchluß1).

Die Beweiskraft des Schluſſes auf den Beſtand immaterieller
Subſtanzen iſt während des Mittelalters unerſchüttert geblieben.
Denn die dogmatiſchen Naturbegriffe der mittelalterlichen Meta-
phyſiker boten ein Fundament für die Folgerung auf ein von der
Natur unterſchiedenes Geiſtige. Dagegen iſt der weitere Schluß auf
die individuelle Fortdauer der Einzelſeelen ſchon von mittelalter-
lichen Denkern als unhaltbar erkannt worden. Wie im Morgen-
lande Ibn Roſchd die individuelle Unſterblichkeit in Frage ſtellte,
ſo gingen auch im chriſtlichen Abendlande Amalrich von Bena und
David von Dinanto, wahrſcheinlich unter dem Einfluß arabiſcher
Lehren, zur Leugnung der perſönlichen Fortdauer fort. Und
zwar zogen ſie die Konſequenz der Vernunftwiſſenſchaft, wenn ſie
in dem Sein, das dem höchſten Begriff entſpricht, die Diffe-
renzen der Gattungen, Arten und Individuen gleichſam nur ein-
gezeichnet vorſtellten und ſo jedes Einzeldaſein ihnen nur die vor-
übergehende Modifikation derſelben Subſtanz war. Und Duns
Scotus bedient ſich zwar einer der oben dargelegten verwandten
Betrachtungsweiſe, um jede Art materialiſtiſcher Vorſtellung abzu-
wehren, aber er erkennt bereits nicht mehr an, daß die individuelle
Fortdauer aus ihr folge2).

Das Mittelalter hat, entſprechend ſeinem geringeren Intereſſe
für die wiſſenſchaftliche Durchbildung der Begriffe von der Wirk-

1) Thomas contra gentil. II c. 46 p. 192a.
2) Ueber Amalrich von Bena und David von Dinanto Hauréau
histoire d. l. phil. scol. II, 1 p. 73 ff., vgl. oben S. 386 f. — Die wichtige
Beſtreitung der Beweisbarkeit perſönlicher Fortdauer, wie ſie
Duns Scotus in die chriſtliche Scholaſtik einführte, vgl. bei Duns Scotus
reportata Paris. l. IV dist. 43 und die entſprechende Darſtellung in sent.
Dilthey, Einleitung. 26
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[401/0424] Das Mittelalter bildet ihn fort. Ordnung fordert Strafen, dieſe treten aber im Dieſſeits nicht regelmäßig ein; wir finden in uns ein natürliches Streben nach Glückſeligkeit und dieſes muß zur Befriedigung gelangen; aus dem teleologiſchen Zuſammenhang der Welt in Gott folgt, daß die Schöpfung in ihr Prinzip zurückkehren muß, und wie ſie von dem göttlichen Intellekt ausging, erreicht ſie in geiſtigen Weſen ihren Abſchluß 1). Die Beweiskraft des Schluſſes auf den Beſtand immaterieller Subſtanzen iſt während des Mittelalters unerſchüttert geblieben. Denn die dogmatiſchen Naturbegriffe der mittelalterlichen Meta- phyſiker boten ein Fundament für die Folgerung auf ein von der Natur unterſchiedenes Geiſtige. Dagegen iſt der weitere Schluß auf die individuelle Fortdauer der Einzelſeelen ſchon von mittelalter- lichen Denkern als unhaltbar erkannt worden. Wie im Morgen- lande Ibn Roſchd die individuelle Unſterblichkeit in Frage ſtellte, ſo gingen auch im chriſtlichen Abendlande Amalrich von Bena und David von Dinanto, wahrſcheinlich unter dem Einfluß arabiſcher Lehren, zur Leugnung der perſönlichen Fortdauer fort. Und zwar zogen ſie die Konſequenz der Vernunftwiſſenſchaft, wenn ſie in dem Sein, das dem höchſten Begriff entſpricht, die Diffe- renzen der Gattungen, Arten und Individuen gleichſam nur ein- gezeichnet vorſtellten und ſo jedes Einzeldaſein ihnen nur die vor- übergehende Modifikation derſelben Subſtanz war. Und Duns Scotus bedient ſich zwar einer der oben dargelegten verwandten Betrachtungsweiſe, um jede Art materialiſtiſcher Vorſtellung abzu- wehren, aber er erkennt bereits nicht mehr an, daß die individuelle Fortdauer aus ihr folge 2). Das Mittelalter hat, entſprechend ſeinem geringeren Intereſſe für die wiſſenſchaftliche Durchbildung der Begriffe von der Wirk- 1) Thomas contra gentil. II c. 46 p. 192a. 2) Ueber Amalrich von Bena und David von Dinanto Hauréau histoire d. l. phil. scol. II, 1 p. 73 ff., vgl. oben S. 386 f. — Die wichtige Beſtreitung der Beweisbarkeit perſönlicher Fortdauer, wie ſie Duns Scotus in die chriſtliche Scholaſtik einführte, vgl. bei Duns Scotus reportata Paris. l. IV dist. 43 und die entſprechende Darſtellung in sent. Dilthey, Einleitung. 26

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/424>, abgerufen am 22.11.2024.