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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die arabischen Peripatetiker u. d. Theorie vom einheitlichen Verstande.
und weiter des Parmenides etc. zurückreichen, und die Allgemein-
gültigkeit der Sätze das Individuelle aufzuheben strebt. Dies Un-
persönliche des Denkens erhält in dem Maße für die metaphysische
Weltansicht größeres Gewicht, als das System der allgemeinen
Begriffe und Wahrheiten im Geiste verselbständigt wird. Wird
das Wesen des Menschengeistes im Denken gefunden, so fehlt ein
Prinzip, welches dem Einzelgeiste seinen selbständigen Mittelpunkt
sicherte; denn ein solches liegt nur in dem Lebensgefühl und dem
Willen.

Wenden wir diese allgemeinen Sätze an. Der Intellektualis-
mus der arabischen Peripatetiker, wie er in Ibn Roschd seinen
Höhepunkt erreicht hat, findet in Vorgängen des Wissens das Band
des Weltzusammenhangs, und selbst die Vereinigung der Seele
mit Gott vollzieht sich ihm in der Wissenschaft. Ihm fehlt da-
her, in folgerichtigem Zusammenhang mit dem Grundgedanken
der aristotelischen Vernunftwissenschaft, für die geistige Welt
ein Prinzip der Individuation1); da in der Materie
ein solches nur für die sinnlichen Einzelexistenzen gegeben ist.
Ja Ibn Roschd ist sich der Eigenschaften des Denkens,
welche die Akte desselben in verschiedenen Individuen innerlich
zu Einem Vernunftzusammenhang verbinden, sehr klar bewußt.
Er schließt daraus, daß das Denken das Unveränderliche zu
seinem Gegenstande hat, es müsse selber ewig sein2). In dem
über Entstehung und Untergang der Individuen hinausgreifen-
den Zusammenhang der Wissenschaft ist das Auftreten dieses
oder jenes Denkers nur zufällig, der Verstand selber ist ewig3).

1) Averroes destructio destructionum II disp. 3 fol. 145 (Venet.
1562): nam plurificatio numeralis individualis provenit ex
materia.
2) Averroes de animae beatitudine c. 3 fol. 150 ff.
3) Destructio destructionum II disp. 2 fol. 144 K, Averroes zu
der ratio decima: igitur necesse est ut sit non generabilis, nec cor-
ruptibilis, nec deperditur, cum deperdatur aliquod individuorum, in
quibus invenitur ille. et ideo scientiae sunt aeternae et nec generabiles
nec corruptibiles, nisi per accidens, scilicet ex copulatione earum Socrati
et Platoni . . quoniam intellectui nihil est individuitatis.

Die arabiſchen Peripatetiker u. d. Theorie vom einheitlichen Verſtande.
und weiter des Parmenides etc. zurückreichen, und die Allgemein-
gültigkeit der Sätze das Individuelle aufzuheben ſtrebt. Dies Un-
perſönliche des Denkens erhält in dem Maße für die metaphyſiſche
Weltanſicht größeres Gewicht, als das Syſtem der allgemeinen
Begriffe und Wahrheiten im Geiſte verſelbſtändigt wird. Wird
das Weſen des Menſchengeiſtes im Denken gefunden, ſo fehlt ein
Prinzip, welches dem Einzelgeiſte ſeinen ſelbſtändigen Mittelpunkt
ſicherte; denn ein ſolches liegt nur in dem Lebensgefühl und dem
Willen.

Wenden wir dieſe allgemeinen Sätze an. Der Intellektualis-
mus der arabiſchen Peripatetiker, wie er in Ibn Roſchd ſeinen
Höhepunkt erreicht hat, findet in Vorgängen des Wiſſens das Band
des Weltzuſammenhangs, und ſelbſt die Vereinigung der Seele
mit Gott vollzieht ſich ihm in der Wiſſenſchaft. Ihm fehlt da-
her, in folgerichtigem Zuſammenhang mit dem Grundgedanken
der ariſtoteliſchen Vernunftwiſſenſchaft, für die geiſtige Welt
ein Prinzip der Individuation1); da in der Materie
ein ſolches nur für die ſinnlichen Einzelexiſtenzen gegeben iſt.
Ja Ibn Roſchd iſt ſich der Eigenſchaften des Denkens,
welche die Akte deſſelben in verſchiedenen Individuen innerlich
zu Einem Vernunftzuſammenhang verbinden, ſehr klar bewußt.
Er ſchließt daraus, daß das Denken das Unveränderliche zu
ſeinem Gegenſtande hat, es müſſe ſelber ewig ſein2). In dem
über Entſtehung und Untergang der Individuen hinausgreifen-
den Zuſammenhang der Wiſſenſchaft iſt das Auftreten dieſes
oder jenes Denkers nur zufällig, der Verſtand ſelber iſt ewig3).

1) Averroes destructio destructionum II disp. 3 fol. 145 (Venet.
1562): nam plurificatio numeralis individualis provenit ex
materia.
2) Averroes de animae beatitudine c. 3 fol. 150 ff.
3) Destructio destructionum II disp. 2 fol. 144 K, Averroes zu
der ratio decima: igitur necesse est ut sit non generabilis, nec cor-
ruptibilis, nec deperditur, cum deperdatur aliquod individuorum, in
quibus invenitur ille. et ideo scientiae sunt aeternae et nec generabiles
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[405/0428] Die arabiſchen Peripatetiker u. d. Theorie vom einheitlichen Verſtande. und weiter des Parmenides etc. zurückreichen, und die Allgemein- gültigkeit der Sätze das Individuelle aufzuheben ſtrebt. Dies Un- perſönliche des Denkens erhält in dem Maße für die metaphyſiſche Weltanſicht größeres Gewicht, als das Syſtem der allgemeinen Begriffe und Wahrheiten im Geiſte verſelbſtändigt wird. Wird das Weſen des Menſchengeiſtes im Denken gefunden, ſo fehlt ein Prinzip, welches dem Einzelgeiſte ſeinen ſelbſtändigen Mittelpunkt ſicherte; denn ein ſolches liegt nur in dem Lebensgefühl und dem Willen. Wenden wir dieſe allgemeinen Sätze an. Der Intellektualis- mus der arabiſchen Peripatetiker, wie er in Ibn Roſchd ſeinen Höhepunkt erreicht hat, findet in Vorgängen des Wiſſens das Band des Weltzuſammenhangs, und ſelbſt die Vereinigung der Seele mit Gott vollzieht ſich ihm in der Wiſſenſchaft. Ihm fehlt da- her, in folgerichtigem Zuſammenhang mit dem Grundgedanken der ariſtoteliſchen Vernunftwiſſenſchaft, für die geiſtige Welt ein Prinzip der Individuation 1); da in der Materie ein ſolches nur für die ſinnlichen Einzelexiſtenzen gegeben iſt. Ja Ibn Roſchd iſt ſich der Eigenſchaften des Denkens, welche die Akte deſſelben in verſchiedenen Individuen innerlich zu Einem Vernunftzuſammenhang verbinden, ſehr klar bewußt. Er ſchließt daraus, daß das Denken das Unveränderliche zu ſeinem Gegenſtande hat, es müſſe ſelber ewig ſein 2). In dem über Entſtehung und Untergang der Individuen hinausgreifen- den Zuſammenhang der Wiſſenſchaft iſt das Auftreten dieſes oder jenes Denkers nur zufällig, der Verſtand ſelber iſt ewig 3). 1) Averroes destructio destructionum II disp. 3 fol. 145 (Venet. 1562): nam plurificatio numeralis individualis provenit ex materia. 2) Averroes de animae beatitudine c. 3 fol. 150 ff. 3) Destructio destructionum II disp. 2 fol. 144 K, Averroes zu der ratio decima: igitur necesse est ut sit non generabilis, nec cor- ruptibilis, nec deperditur, cum deperdatur aliquod individuorum, in quibus invenitur ille. et ideo scientiae sunt aeternae et nec generabiles nec corruptibiles, nisi per accidens, scilicet ex copulatione earum Socrati et Platoni . . quoniam intellectui nihil est individuitatis.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/428>, abgerufen am 22.11.2024.