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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
Der einheitliche Verstand entspricht der Selbigkeit der Vernunft-
wahrheit in den vielen Individuen1). Nur so ist erklärbar,
daß der Intellekt das Allgemeine, und zwar nicht im Verhält-
niß einer durch die Materie ihm zufallenden endlichen Stellung
in der Körperwelt, zu erkennen vermag2). Daher ist die mensch-
liche Wissenschaft als in sich zusammenhängendes Ganze ein in
Gott gegründeter, nothwendiger und ewiger Bestandtheil der
Weltordnung. Sie ist unabhängig von dem Leben des einzelnen
Menschen. Ex necessitate est, ut sit aliquis philosophus
in specie humana
3). -- Innerhalb dieser panlogistischen Ver-
fassung des Systems tritt von Neuem bei Ibn Roschd die
pantheistische Konsequenz derjenigen Vernunftwissenschaft hervor,
welche die Gedankenmäßigkeit der Welt in dem realen Zusammen-
hang der Gattungen und Arten sieht. Ibn Roschd's Lehre von
dem ewigen und universellen Verstande entsprang näher aus der
aristotelischen Ansicht von den Prinzipien der Individuation. Das
Einzelwesen besteht aus Stoff und Form; nun ist Stoff den
Geistern oder Seelen nicht beizulegen, ihre Form oder Wesenheit
aber ist identisch; sonach müssen sie selber identisch sein4). -- Und
dem entspricht die Verschiebung des Ausgangspunktes der Beweise
für die Unsterblichkeit, die wir in seiner Darlegung derselben her-
aushoben. In der Vereinigung mit dem von Gott ausstrahlenden
"wirkenden Geiste" besteht diejenige Unsterblichkeit des Menschen-

1) Destr. destr. I disp. 1 fol. 20 M: et anima quidem Socratis et Platonis
sunt eaedem aliquo modo et multae aliquo modo: ac si diceres sunt
eaedem ex parte formae, et multae ex parte subjecti earum ... anima
autem prae caeteris assimilatur lumini, et sicut lumen dividitur ad divi-
sionem corporum illuminatorum, deinde fit unum in ablatione corporum,
sic est res in animabus cum corporibus.
2) Albertus Magnus de unitate intellectus contra Averroem c. 4. --
Die Argumente sind im Text frei wiedergegeben, da sie in ihrer genauen
Fassung die Spezialitäten der averroistischen Metaphysik voraussetzen. --
Vgl. übrigens Leibniz, Considerations sur la doctrine d'un esprit uni-
versel
, welche schon Averroes zu Spinoza in Beziehung setzen.
3) Averroes de anim. beat. c. 2 fol. 149 G.
4) Averroes destr. II disp. 3 fol. 145 ff.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Der einheitliche Verſtand entſpricht der Selbigkeit der Vernunft-
wahrheit in den vielen Individuen1). Nur ſo iſt erklärbar,
daß der Intellekt das Allgemeine, und zwar nicht im Verhält-
niß einer durch die Materie ihm zufallenden endlichen Stellung
in der Körperwelt, zu erkennen vermag2). Daher iſt die menſch-
liche Wiſſenſchaft als in ſich zuſammenhängendes Ganze ein in
Gott gegründeter, nothwendiger und ewiger Beſtandtheil der
Weltordnung. Sie iſt unabhängig von dem Leben des einzelnen
Menſchen. Ex necessitate est, ut sit aliquis philosophus
in specie humana
3). — Innerhalb dieſer panlogiſtiſchen Ver-
faſſung des Syſtems tritt von Neuem bei Ibn Roſchd die
pantheiſtiſche Konſequenz derjenigen Vernunftwiſſenſchaft hervor,
welche die Gedankenmäßigkeit der Welt in dem realen Zuſammen-
hang der Gattungen und Arten ſieht. Ibn Roſchd’s Lehre von
dem ewigen und univerſellen Verſtande entſprang näher aus der
ariſtoteliſchen Anſicht von den Prinzipien der Individuation. Das
Einzelweſen beſteht aus Stoff und Form; nun iſt Stoff den
Geiſtern oder Seelen nicht beizulegen, ihre Form oder Weſenheit
aber iſt identiſch; ſonach müſſen ſie ſelber identiſch ſein4). — Und
dem entſpricht die Verſchiebung des Ausgangspunktes der Beweiſe
für die Unſterblichkeit, die wir in ſeiner Darlegung derſelben her-
aushoben. In der Vereinigung mit dem von Gott ausſtrahlenden
„wirkenden Geiſte“ beſteht diejenige Unſterblichkeit des Menſchen-

1) Destr. destr. I disp. 1 fol. 20 M: et anima quidem Socratis et Platonis
sunt eaedem aliquo modo et multae aliquo modo: ac si diceres sunt
eaedem ex parte formae, et multae ex parte subjecti earum ... anima
autem prae caeteris assimilatur lumini, et sicut lumen dividitur ad divi-
sionem corporum illuminatorum, deinde fit unum in ablatione corporum,
sic est res in animabus cum corporibus.
2) Albertus Magnus de unitate intellectus contra Averroem c. 4. —
Die Argumente ſind im Text frei wiedergegeben, da ſie in ihrer genauen
Faſſung die Spezialitäten der averroiſtiſchen Metaphyſik vorausſetzen. —
Vgl. übrigens Leibniz, Considérations sur la doctrine d’un esprit uni-
versel
, welche ſchon Averroes zu Spinoza in Beziehung ſetzen.
3) Averroes de anim. beat. c. 2 fol. 149 G.
4) Averroes destr. II disp. 3 fol. 145 ff.
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[406/0429] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Der einheitliche Verſtand entſpricht der Selbigkeit der Vernunft- wahrheit in den vielen Individuen 1). Nur ſo iſt erklärbar, daß der Intellekt das Allgemeine, und zwar nicht im Verhält- niß einer durch die Materie ihm zufallenden endlichen Stellung in der Körperwelt, zu erkennen vermag 2). Daher iſt die menſch- liche Wiſſenſchaft als in ſich zuſammenhängendes Ganze ein in Gott gegründeter, nothwendiger und ewiger Beſtandtheil der Weltordnung. Sie iſt unabhängig von dem Leben des einzelnen Menſchen. Ex necessitate est, ut sit aliquis philosophus in specie humana 3). — Innerhalb dieſer panlogiſtiſchen Ver- faſſung des Syſtems tritt von Neuem bei Ibn Roſchd die pantheiſtiſche Konſequenz derjenigen Vernunftwiſſenſchaft hervor, welche die Gedankenmäßigkeit der Welt in dem realen Zuſammen- hang der Gattungen und Arten ſieht. Ibn Roſchd’s Lehre von dem ewigen und univerſellen Verſtande entſprang näher aus der ariſtoteliſchen Anſicht von den Prinzipien der Individuation. Das Einzelweſen beſteht aus Stoff und Form; nun iſt Stoff den Geiſtern oder Seelen nicht beizulegen, ihre Form oder Weſenheit aber iſt identiſch; ſonach müſſen ſie ſelber identiſch ſein 4). — Und dem entſpricht die Verſchiebung des Ausgangspunktes der Beweiſe für die Unſterblichkeit, die wir in ſeiner Darlegung derſelben her- aushoben. In der Vereinigung mit dem von Gott ausſtrahlenden „wirkenden Geiſte“ beſteht diejenige Unſterblichkeit des Menſchen- 1) Destr. destr. I disp. 1 fol. 20 M: et anima quidem Socratis et Platonis sunt eaedem aliquo modo et multae aliquo modo: ac si diceres sunt eaedem ex parte formae, et multae ex parte subjecti earum ... anima autem prae caeteris assimilatur lumini, et sicut lumen dividitur ad divi- sionem corporum illuminatorum, deinde fit unum in ablatione corporum, sic est res in animabus cum corporibus. 2) Albertus Magnus de unitate intellectus contra Averroem c. 4. — Die Argumente ſind im Text frei wiedergegeben, da ſie in ihrer genauen Faſſung die Spezialitäten der averroiſtiſchen Metaphyſik vorausſetzen. — Vgl. übrigens Leibniz, Considérations sur la doctrine d’un esprit uni- versel, welche ſchon Averroes zu Spinoza in Beziehung ſetzen. 3) Averroes de anim. beat. c. 2 fol. 149 G. 4) Averroes destr. II disp. 3 fol. 145 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/429>, abgerufen am 22.11.2024.