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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Ewigkeit der Welt und Schöpfung aus Nichts.
Schöpfung der Welt aus Nichts in der Zeit vorstellig zu machen
und in einer Wissenschaft vom Kosmos ihr einen Platz zu be-
stimmen.

Die Lehre von der Ewigkeit der Welt war innerhalb
der aristotelischen Wissenschaft nothwendig1). Es giebt innerhalb
der kosmischen Anschauung von dem System der Bewegungen
keinen Weg zu dem Gedanken eines bewegungslosen Zustandes
oder gar zu dem einer Abwesenheit der Materie: dieses System
muß als ewig gedacht werden. Der Satz: aus Nichts wird Nichts
fordert die Ewigkeit der Welt und schließt jede Schöpfungslehre
aus2).

Die christliche Schöpfungslehre war der vorstellungs-
mäßige Ausdruck für die innere Erfahrung der Transscendenz des
Willens gegenüber der Naturordnung, wie sie in dem Vermögen,
sein Selbst aufzuopfern, ihre höchste Erfahrung hat. Sie ver-
neinte den Naturprozeß als Welterklärung, mochte er emanatistisch
oder naturalistisch gedacht werden3), sowie die Einschränkung des
göttlichen Vermögens durch eine Materie. Aber sie vermochte ihren
positiven Gehalt nur durch die für die Vorstellung unvollziehbaren
Formeln: "ex nihilo", "nicht aus dem Wesen Gottes", "in der
Zeit" auszudrücken4).

Aus dem Gegensatz dieser beiden Begriffe entsteht eine
Antinomie, sofern das religiöse Bewußtsein die Beziehung Gottes

1) Vgl. S. 268.
2) Renan (Averroes 3 108 ff.) giebt eine Erörterung des Ibn Roschd
aus dem großen Kommentar desselben zur Metaphysik des Aristoteles
(Buch XII) in Uebertragung, welche über diese Thesis sich zureichend aus-
spricht.
3) Thomas contra gentil. I c. 81 sq. p. 111 a; IV c. 13 p. 540 a:
Deus res in esse producit non naturali necessitate, sed quasi per intel-
lectum et voluntatem agens
.
4) Die Formel ex nihilo ist die Ueberiragung von 2 Makk. VII, 28;
in der Stelle war möglicherweise das Nichtseiende in platonischem Sinne
zu verstehen; schon Hermas mandatum 1 (Pastor, herausgeg. v. Gebh. u.
Harn. p. 70): o poiesas ek tou me ontos eis to einai ta panta. -- Die
Begründung der Antithesis, nämlich der Schöpfungslehre z. B. Thomas
contra gentil. II c. 16 p. 145 a.

Ewigkeit der Welt und Schöpfung aus Nichts.
Schöpfung der Welt aus Nichts in der Zeit vorſtellig zu machen
und in einer Wiſſenſchaft vom Kosmos ihr einen Platz zu be-
ſtimmen.

Die Lehre von der Ewigkeit der Welt war innerhalb
der ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft nothwendig1). Es giebt innerhalb
der kosmiſchen Anſchauung von dem Syſtem der Bewegungen
keinen Weg zu dem Gedanken eines bewegungsloſen Zuſtandes
oder gar zu dem einer Abweſenheit der Materie: dieſes Syſtem
muß als ewig gedacht werden. Der Satz: aus Nichts wird Nichts
fordert die Ewigkeit der Welt und ſchließt jede Schöpfungslehre
aus2).

Die chriſtliche Schöpfungslehre war der vorſtellungs-
mäßige Ausdruck für die innere Erfahrung der Transſcendenz des
Willens gegenüber der Naturordnung, wie ſie in dem Vermögen,
ſein Selbſt aufzuopfern, ihre höchſte Erfahrung hat. Sie ver-
neinte den Naturprozeß als Welterklärung, mochte er emanatiſtiſch
oder naturaliſtiſch gedacht werden3), ſowie die Einſchränkung des
göttlichen Vermögens durch eine Materie. Aber ſie vermochte ihren
poſitiven Gehalt nur durch die für die Vorſtellung unvollziehbaren
Formeln: „ex nihilo“, „nicht aus dem Weſen Gottes“, „in der
Zeit“ auszudrücken4).

Aus dem Gegenſatz dieſer beiden Begriffe entſteht eine
Antinomie, ſofern das religiöſe Bewußtſein die Beziehung Gottes

1) Vgl. S. 268.
2) Renan (Averroès 3 108 ff.) giebt eine Erörterung des Ibn Roſchd
aus dem großen Kommentar deſſelben zur Metaphyſik des Ariſtoteles
(Buch XII) in Uebertragung, welche über dieſe Theſis ſich zureichend aus-
ſpricht.
3) Thomas contra gentil. I c. 81 sq. p. 111 a; IV c. 13 p. 540 a:
Deus res in esse producit non naturali necessitate, sed quasi per intel-
lectum et voluntatem agens
.
4) Die Formel ex nihilo iſt die Ueberiragung von 2 Makk. VII, 28;
in der Stelle war möglicherweiſe das Nichtſeiende in platoniſchem Sinne
zu verſtehen; ſchon Hermas mandatum 1 (Pastor, herausgeg. v. Gebh. u.
Harn. p. 70): ὁ ποιήσας ἐκ τοῦ μὴ ὄντος εἰς τὸ εἶναι τὰ πάντα. — Die
Begründung der Antitheſis, nämlich der Schöpfungslehre z. B. Thomas
contra gentil. II c. 16 p. 145 a.
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[413/0436] Ewigkeit der Welt und Schöpfung aus Nichts. Schöpfung der Welt aus Nichts in der Zeit vorſtellig zu machen und in einer Wiſſenſchaft vom Kosmos ihr einen Platz zu be- ſtimmen. Die Lehre von der Ewigkeit der Welt war innerhalb der ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft nothwendig 1). Es giebt innerhalb der kosmiſchen Anſchauung von dem Syſtem der Bewegungen keinen Weg zu dem Gedanken eines bewegungsloſen Zuſtandes oder gar zu dem einer Abweſenheit der Materie: dieſes Syſtem muß als ewig gedacht werden. Der Satz: aus Nichts wird Nichts fordert die Ewigkeit der Welt und ſchließt jede Schöpfungslehre aus 2). Die chriſtliche Schöpfungslehre war der vorſtellungs- mäßige Ausdruck für die innere Erfahrung der Transſcendenz des Willens gegenüber der Naturordnung, wie ſie in dem Vermögen, ſein Selbſt aufzuopfern, ihre höchſte Erfahrung hat. Sie ver- neinte den Naturprozeß als Welterklärung, mochte er emanatiſtiſch oder naturaliſtiſch gedacht werden 3), ſowie die Einſchränkung des göttlichen Vermögens durch eine Materie. Aber ſie vermochte ihren poſitiven Gehalt nur durch die für die Vorſtellung unvollziehbaren Formeln: „ex nihilo“, „nicht aus dem Weſen Gottes“, „in der Zeit“ auszudrücken 4). Aus dem Gegenſatz dieſer beiden Begriffe entſteht eine Antinomie, ſofern das religiöſe Bewußtſein die Beziehung Gottes 1) Vgl. S. 268. 2) Renan (Averroès 3 108 ff.) giebt eine Erörterung des Ibn Roſchd aus dem großen Kommentar deſſelben zur Metaphyſik des Ariſtoteles (Buch XII) in Uebertragung, welche über dieſe Theſis ſich zureichend aus- ſpricht. 3) Thomas contra gentil. I c. 81 sq. p. 111 a; IV c. 13 p. 540 a: Deus res in esse producit non naturali necessitate, sed quasi per intel- lectum et voluntatem agens. 4) Die Formel ex nihilo iſt die Ueberiragung von 2 Makk. VII, 28; in der Stelle war möglicherweiſe das Nichtſeiende in platoniſchem Sinne zu verſtehen; ſchon Hermas mandatum 1 (Pastor, herausgeg. v. Gebh. u. Harn. p. 70): ὁ ποιήσας ἐκ τοῦ μὴ ὄντος εἰς τὸ εἶναι τὰ πάντα. — Die Begründung der Antitheſis, nämlich der Schöpfungslehre z. B. Thomas contra gentil. II c. 16 p. 145 a.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/436>, abgerufen am 22.11.2024.