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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
zur Welt irgendwie zu erkennen sich auf dem unkritischen Stand-
punkt genöthigt findet. Denn unter den Bedingungen des Vor-
stellens und Erkennens muß die Welt entweder ewig oder in
der Zeit entstanden und entweder aus der Materie geformt oder
aus Nichts geschaffen gedacht werden. Und zwar kann jedes
dieser beiden Glieder durch Aufhebung des anderen gesetzt werden.

Das Ringen des Mittelalters mit dieser Anti-
nomie
stellt sich darin dar, daß Satz wie Gegensatz durch ent-
scheidende Gründe vernichtet werden, aber die Versuche einer
befriedigenden positiven Aufstellung vergeblich sind. Dieser Streit
besteht seit dem Anfang des achten Jahrhunderts zwischen den
arabischen Theologen und Philosophen, aber insbesondere die
Epoche von Ibn Roschd, Albertus Magnus und Thomas von
Aquino ist erfüllt von ihm. -- Einerseits wird die Existenz der
Materie und die Ewigkeit der Welt von der christlichen Phi-
losophie
widerlegt. Langsam war die Lehre von der Formung
der Materie seit Ibn Sina bei den arabischen Peripatetikern her-
angewachsen; in Ibn Roschd empfing sie ihre härteste Form,
da nach ihm in der Materie die Formen keimartig liegen und
durch die Gottheit hervorgezogen werden (extrahuntur), und
wie diese Lehren in's Abendland dringen, nimmt Albertus den
Kampf gegen sie auf. Die Unmöglichkeit der Ewigkeit der Welt
wird von Albertus daraus erwiesen, daß von dem gegenwärtigen
Zeitmoment ab rückwärts nicht eine unendliche Zeit verflossen
sein kann, da sonst dieser Zeitmoment nicht eintreten konnte1).

1) Albertus Magnus summa theol. II tract. 1 qu. 4 m. 2 art. 5 part. 1
p. 55 a
ff. Vgl. Kant 2, 338 ff. (Rosenkr.). Eine gute Darstellung im Kusari,
wo der erste Lehrsatz der Medabberim (das heißt der philosophirenden arabischen
Theologen) so gefaßt ist: "Zuerst muß man die Erschaffenheit der Welt
feststellen und dies durch Widerlegung des Glaubens an die Nichter-
schaffenheit bestätigen. Wäre die Zeit ohne Anfang, so wäre die Zahl der
in dieser Zeit bis jetzt bestandenen Individuen unendlich; was unendlich
ist, tritt aber nicht in die Wirklichkeit, und wie sind jene Individuen in
die Wirklichkeit getreten, da sie ja der Zahl nach unendlich sind?" ....
"was in die Wirklichkeit tritt, muß endlich sein, was aber unendlich ist,
kann nicht in die Wirklichkeit treten." Also hat die Welt einen Anfang.
Kusari übers. von Cassel 2 S. 402. Ebenso bestimmt schon bei Saadja

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
zur Welt irgendwie zu erkennen ſich auf dem unkritiſchen Stand-
punkt genöthigt findet. Denn unter den Bedingungen des Vor-
ſtellens und Erkennens muß die Welt entweder ewig oder in
der Zeit entſtanden und entweder aus der Materie geformt oder
aus Nichts geſchaffen gedacht werden. Und zwar kann jedes
dieſer beiden Glieder durch Aufhebung des anderen geſetzt werden.

Das Ringen des Mittelalters mit dieſer Anti-
nomie
ſtellt ſich darin dar, daß Satz wie Gegenſatz durch ent-
ſcheidende Gründe vernichtet werden, aber die Verſuche einer
befriedigenden poſitiven Aufſtellung vergeblich ſind. Dieſer Streit
beſteht ſeit dem Anfang des achten Jahrhunderts zwiſchen den
arabiſchen Theologen und Philoſophen, aber insbeſondere die
Epoche von Ibn Roſchd, Albertus Magnus und Thomas von
Aquino iſt erfüllt von ihm. — Einerſeits wird die Exiſtenz der
Materie und die Ewigkeit der Welt von der chriſtlichen Phi-
loſophie
widerlegt. Langſam war die Lehre von der Formung
der Materie ſeit Ibn Sina bei den arabiſchen Peripatetikern her-
angewachſen; in Ibn Roſchd empfing ſie ihre härteſte Form,
da nach ihm in der Materie die Formen keimartig liegen und
durch die Gottheit hervorgezogen werden (extrahuntur), und
wie dieſe Lehren in’s Abendland dringen, nimmt Albertus den
Kampf gegen ſie auf. Die Unmöglichkeit der Ewigkeit der Welt
wird von Albertus daraus erwieſen, daß von dem gegenwärtigen
Zeitmoment ab rückwärts nicht eine unendliche Zeit verfloſſen
ſein kann, da ſonſt dieſer Zeitmoment nicht eintreten konnte1).

1) Albertus Magnus summa theol. II tract. 1 qu. 4 m. 2 art. 5 part. 1
p. 55 a
ff. Vgl. Kant 2, 338 ff. (Roſenkr.). Eine gute Darſtellung im Kuſari,
wo der erſte Lehrſatz der Medabberim (das heißt der philoſophirenden arabiſchen
Theologen) ſo gefaßt iſt: „Zuerſt muß man die Erſchaffenheit der Welt
feſtſtellen und dies durch Widerlegung des Glaubens an die Nichter-
ſchaffenheit beſtätigen. Wäre die Zeit ohne Anfang, ſo wäre die Zahl der
in dieſer Zeit bis jetzt beſtandenen Individuen unendlich; was unendlich
iſt, tritt aber nicht in die Wirklichkeit, und wie ſind jene Individuen in
die Wirklichkeit getreten, da ſie ja der Zahl nach unendlich ſind?“ ....
„was in die Wirklichkeit tritt, muß endlich ſein, was aber unendlich iſt,
kann nicht in die Wirklichkeit treten.“ Alſo hat die Welt einen Anfang.
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[414/0437] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. zur Welt irgendwie zu erkennen ſich auf dem unkritiſchen Stand- punkt genöthigt findet. Denn unter den Bedingungen des Vor- ſtellens und Erkennens muß die Welt entweder ewig oder in der Zeit entſtanden und entweder aus der Materie geformt oder aus Nichts geſchaffen gedacht werden. Und zwar kann jedes dieſer beiden Glieder durch Aufhebung des anderen geſetzt werden. Das Ringen des Mittelalters mit dieſer Anti- nomie ſtellt ſich darin dar, daß Satz wie Gegenſatz durch ent- ſcheidende Gründe vernichtet werden, aber die Verſuche einer befriedigenden poſitiven Aufſtellung vergeblich ſind. Dieſer Streit beſteht ſeit dem Anfang des achten Jahrhunderts zwiſchen den arabiſchen Theologen und Philoſophen, aber insbeſondere die Epoche von Ibn Roſchd, Albertus Magnus und Thomas von Aquino iſt erfüllt von ihm. — Einerſeits wird die Exiſtenz der Materie und die Ewigkeit der Welt von der chriſtlichen Phi- loſophie widerlegt. Langſam war die Lehre von der Formung der Materie ſeit Ibn Sina bei den arabiſchen Peripatetikern her- angewachſen; in Ibn Roſchd empfing ſie ihre härteſte Form, da nach ihm in der Materie die Formen keimartig liegen und durch die Gottheit hervorgezogen werden (extrahuntur), und wie dieſe Lehren in’s Abendland dringen, nimmt Albertus den Kampf gegen ſie auf. Die Unmöglichkeit der Ewigkeit der Welt wird von Albertus daraus erwieſen, daß von dem gegenwärtigen Zeitmoment ab rückwärts nicht eine unendliche Zeit verfloſſen ſein kann, da ſonſt dieſer Zeitmoment nicht eintreten konnte 1). 1) Albertus Magnus summa theol. II tract. 1 qu. 4 m. 2 art. 5 part. 1 p. 55 a ff. Vgl. Kant 2, 338 ff. (Roſenkr.). Eine gute Darſtellung im Kuſari, wo der erſte Lehrſatz der Medabberim (das heißt der philoſophirenden arabiſchen Theologen) ſo gefaßt iſt: „Zuerſt muß man die Erſchaffenheit der Welt feſtſtellen und dies durch Widerlegung des Glaubens an die Nichter- ſchaffenheit beſtätigen. Wäre die Zeit ohne Anfang, ſo wäre die Zahl der in dieſer Zeit bis jetzt beſtandenen Individuen unendlich; was unendlich iſt, tritt aber nicht in die Wirklichkeit, und wie ſind jene Individuen in die Wirklichkeit getreten, da ſie ja der Zahl nach unendlich ſind?“ .... „was in die Wirklichkeit tritt, muß endlich ſein, was aber unendlich iſt, kann nicht in die Wirklichkeit treten.“ Alſo hat die Welt einen Anfang. Kuſari überſ. von Caſſel 2 S. 402. Ebenſo beſtimmt ſchon bei Saadja

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/437>, abgerufen am 22.11.2024.