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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
ihm gebraucht, um die Art, wie hier das Frühere das Spätere
trägt und bedingt, aufzuklären 1). Diesem Stufengang der Er-
ziehung hat Clemens vermittelst seiner Lehre vom Logos auch
die griechische Philosophie eingeordnet 2); jedoch hat eine so weit-
herzige Lehre keine Folgen für den nächsten Verlauf der Metaphysik
der Geschichte gehabt. Und Augustinus findet die Verände-
rungen, welche innerhalb der Offenbarungsreligion stattfinden, be-
dingt durch eine Entwicklung der Menschheit, welche der Stufen-
folge der Lebensalter vergleichbar ist 3). -- So beherrscht diese
und andere Kirchenväter dieselbe Auffassung. Die Menschheit ist
eine Einheit, gleichsam Ein Individuum, welches eine Lebensent-
wicklung durchlaufen muß, dem aber, als einem Zögling, die Regel
dieser Entwicklung vorherrschend von dem planmäßig wirkenden
Erzieher kommt. Neben dieser tieferen Gliederung der Geschichte
der Menschheit geht die mehr äußerliche Eintheilung her, welche
dieselbe in den Schöpfungstagen entsprechende Weltalter zerlegt.

Diese Idee von dem inneren Zusammenhang der Geschichte
der Menschheit, welche flüchtig und unfaßbar wie sie war zwischen
den harten Thatsachen der Geschichte schien zerfließen zu müssen,
empfing festen Umriß und Körperlichkeit durch den Zusammen-
hang religiöser
und weltlicher Vorstellungen, in
welchen sie eintrat. In der Unabhängigkeit der religiösen Er-
fahrung und des auf sie begründeten religiösen Gemeinlebens,
welches auch gegenüber der römischen Weltherrschaft sich aufrecht
erhielt und sich im Gefühl seiner Unbesiegbarkeit behauptete, war
die Trennung der religiösen Sphäre der Gesellschaft

1) Tertullian de virginibus velandis c. 1.
2) Clemens stromat. I c. 5 p. 122 (Sylb.) von der Philosophie:
epaidagogei gar kai aute to Ellenikon, os o nomos tous Ebraious
eis Khriston.
3) Augustinus ep. 138 c. 1, zur Auflösung des von Marcellinus (S. 424
Anm. 1) gestellten Probiems: quoties nostrae variantur aetates! adoles-
centiae pueritia non reditura cedit; juventus adolescentiae non mansura
succedit; finiens juventutem senectus morte finitur. haec omnia mutantur,
nec mutatur divinae providentiae ratio, qua fit ut ista mutentur .. aliud
magister adolescenti, quam puero solebat, impos
.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
ihm gebraucht, um die Art, wie hier das Frühere das Spätere
trägt und bedingt, aufzuklären 1). Dieſem Stufengang der Er-
ziehung hat Clemens vermittelſt ſeiner Lehre vom Logos auch
die griechiſche Philoſophie eingeordnet 2); jedoch hat eine ſo weit-
herzige Lehre keine Folgen für den nächſten Verlauf der Metaphyſik
der Geſchichte gehabt. Und Auguſtinus findet die Verände-
rungen, welche innerhalb der Offenbarungsreligion ſtattfinden, be-
dingt durch eine Entwicklung der Menſchheit, welche der Stufen-
folge der Lebensalter vergleichbar iſt 3). — So beherrſcht dieſe
und andere Kirchenväter dieſelbe Auffaſſung. Die Menſchheit iſt
eine Einheit, gleichſam Ein Individuum, welches eine Lebensent-
wicklung durchlaufen muß, dem aber, als einem Zögling, die Regel
dieſer Entwicklung vorherrſchend von dem planmäßig wirkenden
Erzieher kommt. Neben dieſer tieferen Gliederung der Geſchichte
der Menſchheit geht die mehr äußerliche Eintheilung her, welche
dieſelbe in den Schöpfungstagen entſprechende Weltalter zerlegt.

Dieſe Idee von dem inneren Zuſammenhang der Geſchichte
der Menſchheit, welche flüchtig und unfaßbar wie ſie war zwiſchen
den harten Thatſachen der Geſchichte ſchien zerfließen zu müſſen,
empfing feſten Umriß und Körperlichkeit durch den Zuſammen-
hang religiöſer
und weltlicher Vorſtellungen, in
welchen ſie eintrat. In der Unabhängigkeit der religiöſen Er-
fahrung und des auf ſie begründeten religiöſen Gemeinlebens,
welches auch gegenüber der römiſchen Weltherrſchaft ſich aufrecht
erhielt und ſich im Gefühl ſeiner Unbeſiegbarkeit behauptete, war
die Trennung der religiöſen Sphäre der Geſellſchaft

1) Tertullian de virginibus velandis c. 1.
2) Clemens stromat. I c. 5 p. 122 (Sylb.) von der Philoſophie:
ἐπαιδαγώγει γὰϱ καὶ αὐτὴ τὸ Ἑλληνικόν, ὡς ὁ νόμος τοὺς Ἑβϱαίους
εἰς Χϱιστόν.
3) Auguſtinus ep. 138 c. 1, zur Auflöſung des von Marcellinus (S. 424
Anm. 1) geſtellten Probíems: quoties nostrae variantur aetates! adoles-
centiae pueritia non reditura cedit; juventus adolescentiae non mansura
succedit; finiens juventutem senectus morte finitur. haec omnia mutantur,
nec mutatur divinae providentiae ratio, qua fit ut ista mutentur .. aliud
magister adolescenti, quam puero solebat, impos
.
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[428/0451] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. ihm gebraucht, um die Art, wie hier das Frühere das Spätere trägt und bedingt, aufzuklären 1). Dieſem Stufengang der Er- ziehung hat Clemens vermittelſt ſeiner Lehre vom Logos auch die griechiſche Philoſophie eingeordnet 2); jedoch hat eine ſo weit- herzige Lehre keine Folgen für den nächſten Verlauf der Metaphyſik der Geſchichte gehabt. Und Auguſtinus findet die Verände- rungen, welche innerhalb der Offenbarungsreligion ſtattfinden, be- dingt durch eine Entwicklung der Menſchheit, welche der Stufen- folge der Lebensalter vergleichbar iſt 3). — So beherrſcht dieſe und andere Kirchenväter dieſelbe Auffaſſung. Die Menſchheit iſt eine Einheit, gleichſam Ein Individuum, welches eine Lebensent- wicklung durchlaufen muß, dem aber, als einem Zögling, die Regel dieſer Entwicklung vorherrſchend von dem planmäßig wirkenden Erzieher kommt. Neben dieſer tieferen Gliederung der Geſchichte der Menſchheit geht die mehr äußerliche Eintheilung her, welche dieſelbe in den Schöpfungstagen entſprechende Weltalter zerlegt. Dieſe Idee von dem inneren Zuſammenhang der Geſchichte der Menſchheit, welche flüchtig und unfaßbar wie ſie war zwiſchen den harten Thatſachen der Geſchichte ſchien zerfließen zu müſſen, empfing feſten Umriß und Körperlichkeit durch den Zuſammen- hang religiöſer und weltlicher Vorſtellungen, in welchen ſie eintrat. In der Unabhängigkeit der religiöſen Er- fahrung und des auf ſie begründeten religiöſen Gemeinlebens, welches auch gegenüber der römiſchen Weltherrſchaft ſich aufrecht erhielt und ſich im Gefühl ſeiner Unbeſiegbarkeit behauptete, war die Trennung der religiöſen Sphäre der Geſellſchaft 1) Tertullian de virginibus velandis c. 1. 2) Clemens stromat. I c. 5 p. 122 (Sylb.) von der Philoſophie: ἐπαιδαγώγει γὰϱ καὶ αὐτὴ τὸ Ἑλληνικόν, ὡς ὁ νόμος τοὺς Ἑβϱαίους εἰς Χϱιστόν. 3) Auguſtinus ep. 138 c. 1, zur Auflöſung des von Marcellinus (S. 424 Anm. 1) geſtellten Probíems: quoties nostrae variantur aetates! adoles- centiae pueritia non reditura cedit; juventus adolescentiae non mansura succedit; finiens juventutem senectus morte finitur. haec omnia mutantur, nec mutatur divinae providentiae ratio, qua fit ut ista mutentur .. aliud magister adolescenti, quam puero solebat, impos.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/451>, abgerufen am 22.11.2024.