Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Dritter Abschnitt. religiöse Zweck des menschlichen Daseins gebunden ist. DieseAuffassung entspricht der allgemeineren mittelalterlichen Auffassung des weltlichen Lebens, als eines Mittels und einer Grundlage für die Verwirklichung des religiösen, wie sie in der Ethik Albert's des Großen und des Thomas von Aquino ihren klassi- schen Ausdruck gefunden hat. Der letzte Zweck der menschlichen Gesellschaft ist nach der Schrift des Thomas über das Fürstenre- giment, durch tugendhaftes Leben zu dem Genusse Gottes zu kommen. Dies Ziel kann nicht durch die Kräfte der menschlichen Natur er- reicht werden, sondern nur durch die Gnade Gottes. Daher ist die Verwirklichung des tugendhaften Lebens in der staatlichen Gemein- schaft das Mittel für die Erreichung eines Zweckes, welcher jenseit des vom Staate zu Leistenden liegt und von dem göttlichen Könige selber sowie durch Uebertragung von dem Priesterthum ver- wirklicht wird. Also ist dieser Hierarchie die weltliche Herr- schaft untergeordnet1). Einen schon aus der Zeit der Kirchen- väter herrührenden, von den mittelalterlichen Denkern vielfach an- gewandten Vergleich aufnehmend, findet Thomas im Verhältniß des weltlichen Staates zur Kirche ein Abbild des Verhältnisses des Leibes zur Seele2). Diese Werthbestimmung des staatlichen Lebens war unter den mittelalterlichen Schriftstellern die am meisten verbreitete, und Thomas, der weiseste aller Vermittler, hat auch hier die ausgleichende Formel glücklich ausgesprochen. Ein dritter Standpunkt entsprang aus einer höheren Werth- 1) Thomas de regimine principum I c. 15. Hiermit übereinstimmend summa theol. II, 1 qu. 93 bes. art. 3 und 6. 2) So schon in den apostolischen Konstitutionen II c. 34 p. 681 C
(Migne) und in der orat. 17 des Gregor von Nazianz c. 8 p. 976 B (Migne), alsdann bei vielen mittelalterlichen Schriftstellern, und auch bei Thomas, summa theol. II, 2 qu. 60 art. 6: potestas saecularis subditur spirituali, sicut corpus animae. Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. religiöſe Zweck des menſchlichen Daſeins gebunden iſt. DieſeAuffaſſung entſpricht der allgemeineren mittelalterlichen Auffaſſung des weltlichen Lebens, als eines Mittels und einer Grundlage für die Verwirklichung des religiöſen, wie ſie in der Ethik Albert’s des Großen und des Thomas von Aquino ihren klaſſi- ſchen Ausdruck gefunden hat. Der letzte Zweck der menſchlichen Geſellſchaft iſt nach der Schrift des Thomas über das Fürſtenre- giment, durch tugendhaftes Leben zu dem Genuſſe Gottes zu kommen. Dies Ziel kann nicht durch die Kräfte der menſchlichen Natur er- reicht werden, ſondern nur durch die Gnade Gottes. Daher iſt die Verwirklichung des tugendhaften Lebens in der ſtaatlichen Gemein- ſchaft das Mittel für die Erreichung eines Zweckes, welcher jenſeit des vom Staate zu Leiſtenden liegt und von dem göttlichen Könige ſelber ſowie durch Uebertragung von dem Prieſterthum ver- wirklicht wird. Alſo iſt dieſer Hierarchie die weltliche Herr- ſchaft untergeordnet1). Einen ſchon aus der Zeit der Kirchen- väter herrührenden, von den mittelalterlichen Denkern vielfach an- gewandten Vergleich aufnehmend, findet Thomas im Verhältniß des weltlichen Staates zur Kirche ein Abbild des Verhältniſſes des Leibes zur Seele2). Dieſe Werthbeſtimmung des ſtaatlichen Lebens war unter den mittelalterlichen Schriftſtellern die am meiſten verbreitete, und Thomas, der weiſeſte aller Vermittler, hat auch hier die ausgleichende Formel glücklich ausgeſprochen. Ein dritter Standpunkt entſprang aus einer höheren Werth- 1) Thomas de regimine principum I c. 15. Hiermit übereinſtimmend summa theol. II, 1 qu. 93 beſ. art. 3 und 6. 2) So ſchon in den apoſtoliſchen Konſtitutionen II c. 34 p. 681 C
(Migne) und in der orat. 17 des Gregor von Nazianz c. 8 p. 976 B (Migne), alsdann bei vielen mittelalterlichen Schriftſtellern, und auch bei Thomas, summa theol. II, 2 qu. 60 art. 6: potestas saecularis subditur spirituali, sicut corpus animae. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0461" n="438"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.</fw><lb/> religiöſe Zweck des menſchlichen Daſeins gebunden iſt. Dieſe<lb/> Auffaſſung entſpricht der allgemeineren mittelalterlichen Auffaſſung<lb/> des weltlichen Lebens, als eines Mittels und einer Grundlage<lb/> für die Verwirklichung des religiöſen, wie ſie in der Ethik<lb/> Albert’s des Großen und des Thomas von Aquino ihren klaſſi-<lb/> ſchen Ausdruck gefunden hat. Der letzte Zweck der menſchlichen<lb/> Geſellſchaft iſt nach der Schrift des Thomas über das Fürſtenre-<lb/> giment, durch tugendhaftes Leben zu dem Genuſſe Gottes zu kommen.<lb/> Dies Ziel kann nicht durch die Kräfte der menſchlichen Natur er-<lb/> reicht werden, ſondern nur durch die Gnade Gottes. Daher iſt die<lb/> Verwirklichung des tugendhaften Lebens in der ſtaatlichen Gemein-<lb/> ſchaft das Mittel für die Erreichung eines Zweckes, welcher jenſeit<lb/> des vom Staate zu Leiſtenden liegt und von dem göttlichen Könige<lb/> ſelber ſowie durch Uebertragung von dem Prieſterthum ver-<lb/> wirklicht wird. Alſo iſt dieſer Hierarchie die weltliche Herr-<lb/> ſchaft untergeordnet<note place="foot" n="1)">Thomas <hi rendition="#aq">de regimine principum I c. 15.</hi> Hiermit übereinſtimmend<lb/><hi rendition="#aq">summa theol. II, 1 qu. 93</hi> beſ. <hi rendition="#aq">art.</hi> 3 und 6.</note>. Einen ſchon aus der Zeit der Kirchen-<lb/> väter herrührenden, von den mittelalterlichen Denkern vielfach an-<lb/> gewandten Vergleich aufnehmend, findet Thomas im Verhältniß<lb/> des weltlichen Staates zur Kirche ein Abbild des Verhältniſſes<lb/> des Leibes zur Seele<note place="foot" n="2)">So ſchon in den apoſtoliſchen Konſtitutionen <hi rendition="#aq">II c. 34 p. 681 <hi rendition="#k">C</hi></hi><lb/> (Migne) und in der <hi rendition="#aq">orat. 17</hi> des Gregor von Nazianz <hi rendition="#aq">c. 8 p. 976 <hi rendition="#k">B</hi></hi><lb/> (Migne), alsdann bei vielen mittelalterlichen Schriftſtellern, und auch bei<lb/> Thomas, <hi rendition="#aq">summa theol. II, 2 qu. 60 art. 6: potestas saecularis subditur<lb/> spirituali, sicut corpus animae</hi>.</note>. Dieſe Werthbeſtimmung des ſtaatlichen<lb/> Lebens war unter den mittelalterlichen Schriftſtellern die am meiſten<lb/> verbreitete, und Thomas, der weiſeſte aller Vermittler, hat auch<lb/> hier die ausgleichende Formel glücklich ausgeſprochen.</p><lb/> <p>Ein dritter Standpunkt entſprang aus einer höheren Werth-<lb/> ſchätzung des Staatslebens. Er betrachtet das <hi rendition="#aq">imperium</hi> und das<lb/><hi rendition="#aq">sacerdotium</hi> als zwei gleich unmittelbar von Gott ſtammende Ge-<lb/> walten, von denen jede eine ſelbſtändige Funktion in der ſittlichen<lb/> Welt ausübte. Er erkennt alſo dem Staate und der Kirche die<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [438/0461]
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
religiöſe Zweck des menſchlichen Daſeins gebunden iſt. Dieſe
Auffaſſung entſpricht der allgemeineren mittelalterlichen Auffaſſung
des weltlichen Lebens, als eines Mittels und einer Grundlage
für die Verwirklichung des religiöſen, wie ſie in der Ethik
Albert’s des Großen und des Thomas von Aquino ihren klaſſi-
ſchen Ausdruck gefunden hat. Der letzte Zweck der menſchlichen
Geſellſchaft iſt nach der Schrift des Thomas über das Fürſtenre-
giment, durch tugendhaftes Leben zu dem Genuſſe Gottes zu kommen.
Dies Ziel kann nicht durch die Kräfte der menſchlichen Natur er-
reicht werden, ſondern nur durch die Gnade Gottes. Daher iſt die
Verwirklichung des tugendhaften Lebens in der ſtaatlichen Gemein-
ſchaft das Mittel für die Erreichung eines Zweckes, welcher jenſeit
des vom Staate zu Leiſtenden liegt und von dem göttlichen Könige
ſelber ſowie durch Uebertragung von dem Prieſterthum ver-
wirklicht wird. Alſo iſt dieſer Hierarchie die weltliche Herr-
ſchaft untergeordnet 1). Einen ſchon aus der Zeit der Kirchen-
väter herrührenden, von den mittelalterlichen Denkern vielfach an-
gewandten Vergleich aufnehmend, findet Thomas im Verhältniß
des weltlichen Staates zur Kirche ein Abbild des Verhältniſſes
des Leibes zur Seele 2). Dieſe Werthbeſtimmung des ſtaatlichen
Lebens war unter den mittelalterlichen Schriftſtellern die am meiſten
verbreitete, und Thomas, der weiſeſte aller Vermittler, hat auch
hier die ausgleichende Formel glücklich ausgeſprochen.
Ein dritter Standpunkt entſprang aus einer höheren Werth-
ſchätzung des Staatslebens. Er betrachtet das imperium und das
sacerdotium als zwei gleich unmittelbar von Gott ſtammende Ge-
walten, von denen jede eine ſelbſtändige Funktion in der ſittlichen
Welt ausübte. Er erkennt alſo dem Staate und der Kirche die
1) Thomas de regimine principum I c. 15. Hiermit übereinſtimmend
summa theol. II, 1 qu. 93 beſ. art. 3 und 6.
2) So ſchon in den apoſtoliſchen Konſtitutionen II c. 34 p. 681 C
(Migne) und in der orat. 17 des Gregor von Nazianz c. 8 p. 976 B
(Migne), alsdann bei vielen mittelalterlichen Schriftſtellern, und auch bei
Thomas, summa theol. II, 2 qu. 60 art. 6: potestas saecularis subditur
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