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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Der moderne Mensch.
unter Papst und Kaiser, sich lösten, entstand die neuere euro-
päische Gesellschaft und inmitten ihrer der moderne Mensch.
Dieser ist das Erzeugniß der allmäligen inneren Entwicklung,
welche in der Jugendzeit dieser zweiten Generation der europäischen
Völker oder dem Mittelalter stattfand. Was wir in ihm suchen,
ist unser eigener Herzschlag, verglichen mit dem, was wir in den
Seelen der Menschen älterer Zeiten zu lesen vermögen und das
uns fremd ist. Nichts ist daher relativer, mag man auf die All-
mäligkeit sehen, mit welcher es sich geltend macht, oder auf die
Verschiedenheit des persönlichen Gefühls im Geschichtsschreiber, von
welchem aus ein solcher historischer Typus bestimmt wird.
Dennoch sieht der Geschichtschreiber Wirklichkeit, wenn er erste Bei-
spiele des modernen Menschen an bestimmten Stellen auftreten
sieht; mitten in einer kontinuirlichen Entwicklung faßt er das Er-
gebniß in anschaulich darstellbaren geschichtlichen Erscheinungen auf
und hält es fest. Auch hindert ihn hieran nicht, daß der Punkt,
an welchem in der Entwicklungsbahn des einen Volkes ein solcher
Typus auftritt, der Zeit nach weit abliegt von dem Punkte, an
welchem dies bei einem anderen stattfindet. Es beirrt ihn nicht,
daß die besonderen Züge dieser Form bei dem einen Volke sehr
abweichen von denen bei dem anderen. Ein solcher Typus ist
augenscheinlich Petrarca, der mit Recht als der erste Repräsentant
des modernen Menschen, wie er schon im vierzehnten Jahr-
hundert in klaren Zügen hervortritt, aufgefaßt wird. Es ist nicht
leicht, denselben Typus in dem modernen Menschen des Nordens
wiederzufinden, in Luther und seiner Independenz des Gewissens,
in Erasmus und jener persönlichen Freiheit des untersuchenden
Geistes, welcher in einem grenzenlosen Meere von Tradition, nach
Aufklärung verlangend, vorwärts dringt. Dennoch ist hier wie dort
etwas die ganze Wesenheit dieser Menschen Bestimmendes, was
wir mit ihnen theilen und was sie von Allem absondert, das
früher gewollt, gefühlt oder gedacht wurde.

Aus dem Zusammenhang dessen, was den modernen Menschen
ausmacht, heben wir einen Zug heraus, welchen wir im Ver-
lauf der intellektuellen Geschichte langsam und mühselig sich ent-

Der moderne Menſch.
unter Papſt und Kaiſer, ſich löſten, entſtand die neuere euro-
päiſche Geſellſchaft und inmitten ihrer der moderne Menſch.
Dieſer iſt das Erzeugniß der allmäligen inneren Entwicklung,
welche in der Jugendzeit dieſer zweiten Generation der europäiſchen
Völker oder dem Mittelalter ſtattfand. Was wir in ihm ſuchen,
iſt unſer eigener Herzſchlag, verglichen mit dem, was wir in den
Seelen der Menſchen älterer Zeiten zu leſen vermögen und das
uns fremd iſt. Nichts iſt daher relativer, mag man auf die All-
mäligkeit ſehen, mit welcher es ſich geltend macht, oder auf die
Verſchiedenheit des perſönlichen Gefühls im Geſchichtsſchreiber, von
welchem aus ein ſolcher hiſtoriſcher Typus beſtimmt wird.
Dennoch ſieht der Geſchichtſchreiber Wirklichkeit, wenn er erſte Bei-
ſpiele des modernen Menſchen an beſtimmten Stellen auftreten
ſieht; mitten in einer kontinuirlichen Entwicklung faßt er das Er-
gebniß in anſchaulich darſtellbaren geſchichtlichen Erſcheinungen auf
und hält es feſt. Auch hindert ihn hieran nicht, daß der Punkt,
an welchem in der Entwicklungsbahn des einen Volkes ein ſolcher
Typus auftritt, der Zeit nach weit abliegt von dem Punkte, an
welchem dies bei einem anderen ſtattfindet. Es beirrt ihn nicht,
daß die beſonderen Züge dieſer Form bei dem einen Volke ſehr
abweichen von denen bei dem anderen. Ein ſolcher Typus iſt
augenſcheinlich Petrarca, der mit Recht als der erſte Repräſentant
des modernen Menſchen, wie er ſchon im vierzehnten Jahr-
hundert in klaren Zügen hervortritt, aufgefaßt wird. Es iſt nicht
leicht, denſelben Typus in dem modernen Menſchen des Nordens
wiederzufinden, in Luther und ſeiner Independenz des Gewiſſens,
in Erasmus und jener perſönlichen Freiheit des unterſuchenden
Geiſtes, welcher in einem grenzenloſen Meere von Tradition, nach
Aufklärung verlangend, vorwärts dringt. Dennoch iſt hier wie dort
etwas die ganze Weſenheit dieſer Menſchen Beſtimmendes, was
wir mit ihnen theilen und was ſie von Allem abſondert, das
früher gewollt, gefühlt oder gedacht wurde.

Aus dem Zuſammenhang deſſen, was den modernen Menſchen
ausmacht, heben wir einen Zug heraus, welchen wir im Ver-
lauf der intellektuellen Geſchichte langſam und mühſelig ſich ent-

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[447/0470] Der moderne Menſch. unter Papſt und Kaiſer, ſich löſten, entſtand die neuere euro- päiſche Geſellſchaft und inmitten ihrer der moderne Menſch. Dieſer iſt das Erzeugniß der allmäligen inneren Entwicklung, welche in der Jugendzeit dieſer zweiten Generation der europäiſchen Völker oder dem Mittelalter ſtattfand. Was wir in ihm ſuchen, iſt unſer eigener Herzſchlag, verglichen mit dem, was wir in den Seelen der Menſchen älterer Zeiten zu leſen vermögen und das uns fremd iſt. Nichts iſt daher relativer, mag man auf die All- mäligkeit ſehen, mit welcher es ſich geltend macht, oder auf die Verſchiedenheit des perſönlichen Gefühls im Geſchichtsſchreiber, von welchem aus ein ſolcher hiſtoriſcher Typus beſtimmt wird. Dennoch ſieht der Geſchichtſchreiber Wirklichkeit, wenn er erſte Bei- ſpiele des modernen Menſchen an beſtimmten Stellen auftreten ſieht; mitten in einer kontinuirlichen Entwicklung faßt er das Er- gebniß in anſchaulich darſtellbaren geſchichtlichen Erſcheinungen auf und hält es feſt. Auch hindert ihn hieran nicht, daß der Punkt, an welchem in der Entwicklungsbahn des einen Volkes ein ſolcher Typus auftritt, der Zeit nach weit abliegt von dem Punkte, an welchem dies bei einem anderen ſtattfindet. Es beirrt ihn nicht, daß die beſonderen Züge dieſer Form bei dem einen Volke ſehr abweichen von denen bei dem anderen. Ein ſolcher Typus iſt augenſcheinlich Petrarca, der mit Recht als der erſte Repräſentant des modernen Menſchen, wie er ſchon im vierzehnten Jahr- hundert in klaren Zügen hervortritt, aufgefaßt wird. Es iſt nicht leicht, denſelben Typus in dem modernen Menſchen des Nordens wiederzufinden, in Luther und ſeiner Independenz des Gewiſſens, in Erasmus und jener perſönlichen Freiheit des unterſuchenden Geiſtes, welcher in einem grenzenloſen Meere von Tradition, nach Aufklärung verlangend, vorwärts dringt. Dennoch iſt hier wie dort etwas die ganze Weſenheit dieſer Menſchen Beſtimmendes, was wir mit ihnen theilen und was ſie von Allem abſondert, das früher gewollt, gefühlt oder gedacht wurde. Aus dem Zuſammenhang deſſen, was den modernen Menſchen ausmacht, heben wir einen Zug heraus, welchen wir im Ver- lauf der intellektuellen Geſchichte langſam und mühſelig ſich ent-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/470>, abgerufen am 28.11.2024.