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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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falten sahen, und der nun für die Entstehung wie das Recht
des modernen wissenschaftlichen Bewußtseins in
seinem Gegensatz zu der metaphysischen Stellung des Menschen
entscheidend ist. -- Der Zweckzusammenhang der Erkenntniß
in Europa hat sich in der Wissenschaft von seiner Grundlage in
der Totalität der Menschennatur abgelöst, wie neben ihm die Kunst
oder in anderer Art das Recht. Auf dieser Differenzirung beruht
nicht nur die technische Vollendung der großen Zwecksysteme der
menschlichen Gesellschaft, sondern, als innerster Kern des Vorgangs,
das Freiwerden aller Kräfte in der Einzelseele aus ihrer anfäng-
lichen Gebundenheit; die Seele wird Herrin ihrer Kräfte, einem
Mann zu vergleichen, der gelernt hat, jede Bewegung der Glieder
unabhängig von den Bewegungen der anderen auszuführen und
in genauer und sicherer Abmessung auf die Wirkung zu benutzen.
Die ursprüngliche Bindung der Seelenkräfte löst sich durch die
Arbeit der Geschichte. Denn erst vermittelst der Kunst besitzt
das Gefühl sein mannichfaches, wechselndes und reiches Leben; die
Werke der Künstler strahlen ihm wie in einem Wunderspiegel in
Bildern, Wahrnehmungen, Vorstellungen seine innere Welt erhöht
zurück. In der Arbeit der Wissenschaft erkennt erst der Intellekt
seine Mittel und deren Tragweite, seine Methode und deren
Macht und gebraucht nun mit der technischen Virtuosität gleichsam
des logischen Athleten die in ihm liegenden Kräfte.

Der mittelalterliche Mensch hatte die in der alten Welt
erreichte Differenzirung nur unvollkommen festgehalten. Wol hatte
er die christliche Erfahrung tiefsinnig entfaltet. In dem katho-
lischen Kirchensystem hatte er die selbständige Macht des religiösen
Lebens und des ihm verbundenen gesellschaftlichen Bewußtseins,
das alle Völker verknüpft, befestigt und vertheidigt, wenn auch
mit furchtbaren Gewaltmitteln. Unter dem Schutze und leider
auch der Gewalt dieses Kirchensystems erwuchs der Zweckzu-
sammenhang der Wissenschaft in den Universitäten ebenfalls zu
einer größeren Organisation, und inmitten des korporativen Lebens
des Mittelalters rang auch er nach einer rechtlichen Selbständig-
keitssphäre. Aber die Herrschaft der Religion, welche allen höheren

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
falten ſahen, und der nun für die Entſtehung wie das Recht
des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins in
ſeinem Gegenſatz zu der metaphyſiſchen Stellung des Menſchen
entſcheidend iſt. — Der Zweckzuſammenhang der Erkenntniß
in Europa hat ſich in der Wiſſenſchaft von ſeiner Grundlage in
der Totalität der Menſchennatur abgelöſt, wie neben ihm die Kunſt
oder in anderer Art das Recht. Auf dieſer Differenzirung beruht
nicht nur die techniſche Vollendung der großen Zweckſyſteme der
menſchlichen Geſellſchaft, ſondern, als innerſter Kern des Vorgangs,
das Freiwerden aller Kräfte in der Einzelſeele aus ihrer anfäng-
lichen Gebundenheit; die Seele wird Herrin ihrer Kräfte, einem
Mann zu vergleichen, der gelernt hat, jede Bewegung der Glieder
unabhängig von den Bewegungen der anderen auszuführen und
in genauer und ſicherer Abmeſſung auf die Wirkung zu benutzen.
Die urſprüngliche Bindung der Seelenkräfte löſt ſich durch die
Arbeit der Geſchichte. Denn erſt vermittelſt der Kunſt beſitzt
das Gefühl ſein mannichfaches, wechſelndes und reiches Leben; die
Werke der Künſtler ſtrahlen ihm wie in einem Wunderſpiegel in
Bildern, Wahrnehmungen, Vorſtellungen ſeine innere Welt erhöht
zurück. In der Arbeit der Wiſſenſchaft erkennt erſt der Intellekt
ſeine Mittel und deren Tragweite, ſeine Methode und deren
Macht und gebraucht nun mit der techniſchen Virtuoſität gleichſam
des logiſchen Athleten die in ihm liegenden Kräfte.

Der mittelalterliche Menſch hatte die in der alten Welt
erreichte Differenzirung nur unvollkommen feſtgehalten. Wol hatte
er die chriſtliche Erfahrung tiefſinnig entfaltet. In dem katho-
liſchen Kirchenſyſtem hatte er die ſelbſtändige Macht des religiöſen
Lebens und des ihm verbundenen geſellſchaftlichen Bewußtſeins,
das alle Völker verknüpft, befeſtigt und vertheidigt, wenn auch
mit furchtbaren Gewaltmitteln. Unter dem Schutze und leider
auch der Gewalt dieſes Kirchenſyſtems erwuchs der Zweckzu-
ſammenhang der Wiſſenſchaft in den Univerſitäten ebenfalls zu
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[448/0471] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. falten ſahen, und der nun für die Entſtehung wie das Recht des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins in ſeinem Gegenſatz zu der metaphyſiſchen Stellung des Menſchen entſcheidend iſt. — Der Zweckzuſammenhang der Erkenntniß in Europa hat ſich in der Wiſſenſchaft von ſeiner Grundlage in der Totalität der Menſchennatur abgelöſt, wie neben ihm die Kunſt oder in anderer Art das Recht. Auf dieſer Differenzirung beruht nicht nur die techniſche Vollendung der großen Zweckſyſteme der menſchlichen Geſellſchaft, ſondern, als innerſter Kern des Vorgangs, das Freiwerden aller Kräfte in der Einzelſeele aus ihrer anfäng- lichen Gebundenheit; die Seele wird Herrin ihrer Kräfte, einem Mann zu vergleichen, der gelernt hat, jede Bewegung der Glieder unabhängig von den Bewegungen der anderen auszuführen und in genauer und ſicherer Abmeſſung auf die Wirkung zu benutzen. Die urſprüngliche Bindung der Seelenkräfte löſt ſich durch die Arbeit der Geſchichte. Denn erſt vermittelſt der Kunſt beſitzt das Gefühl ſein mannichfaches, wechſelndes und reiches Leben; die Werke der Künſtler ſtrahlen ihm wie in einem Wunderſpiegel in Bildern, Wahrnehmungen, Vorſtellungen ſeine innere Welt erhöht zurück. In der Arbeit der Wiſſenſchaft erkennt erſt der Intellekt ſeine Mittel und deren Tragweite, ſeine Methode und deren Macht und gebraucht nun mit der techniſchen Virtuoſität gleichſam des logiſchen Athleten die in ihm liegenden Kräfte. Der mittelalterliche Menſch hatte die in der alten Welt erreichte Differenzirung nur unvollkommen feſtgehalten. Wol hatte er die chriſtliche Erfahrung tiefſinnig entfaltet. In dem katho- liſchen Kirchenſyſtem hatte er die ſelbſtändige Macht des religiöſen Lebens und des ihm verbundenen geſellſchaftlichen Bewußtſeins, das alle Völker verknüpft, befeſtigt und vertheidigt, wenn auch mit furchtbaren Gewaltmitteln. Unter dem Schutze und leider auch der Gewalt dieſes Kirchenſyſtems erwuchs der Zweckzu- ſammenhang der Wiſſenſchaft in den Univerſitäten ebenfalls zu einer größeren Organiſation, und inmitten des korporativen Lebens des Mittelalters rang auch er nach einer rechtlichen Selbſtändig- keitsſphäre. Aber die Herrſchaft der Religion, welche allen höheren

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/471>, abgerufen am 28.11.2024.