Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Sein Unterschied vom mittelalterlichen Menschen.
Gefühlen und Ideen eine seltene Sicherheit und Tiefe im Mittel-
alter gab, hat doch alle selbständigen Zweckzusammenhänge bis zu
einem gewissen Grade gebunden. Die Legirung des Christenthums
mit der antiken Wissenschaft hat die Lauterkeit der religiösen Er-
fahrung beeinträchtigt. Die korporative und autoritative Bindung
der Individuen hat die freie Beziehung der Thätigkeiten von Per-
sonen auf einander in Gebieten, welche wie Wissenschaft und
Religion in der Freiheit ihren Lebensathem haben, gehemmt. So
haben die Lebensbedingungen des Mittelalters den Reichthum
höheren Daseins zu einem von der Kirche geleiteten Zusammen-
hang verwebt, in dem das Christenthum sich an eine metaphysische
Wissenschaft verlor, Wissenschaft und Kunst innerlich und äußer-
lich gefesselt waren. Dieser Zusammenhang der Bildung hatte
in der äußeren Organisation der Kirche seinen Körper. Ihm
gegenüber war Alles, was sonst im mittelalterlichen Menschen
sich regte, Weltlichkeit, die vernichtet oder unterworfen werden
mußte. So ging durch seine Seele derselbe Zwiespalt, welcher
die Gesellschaft jener Tage in die kaiserliche und kirchliche Gewalt
auseinanderriß. Naturwuchs des Staatslebens, Verharren der
Individuen in den ursprünglichen Beziehungen zum Boden, Be-
sonderheit, persönliches Verhältniß und persönlicher Verband, unter
Zurücktreten allgemeiner Rechtsregeln, dazu ein jugendliches Un-
gestüm in der germanischen Race und den durch sie mit neuem
Blute erfüllten älteren Völkern: dies Alles hatte in dem Men-
schen jener Zeit ungebändigtes Leben der Sinne und des Willens
zur Folge. Aber in seiner Seele kämpfte hiergegen der Glaube
an ein transscendentes Reich, welches durch die Kirche, den
Kleriker und das Sakrament in das Diesseits herüberwirkt und
aus dem göttliche Kräfte beständig ausstrahlen. Die Macht dieses
objektiven Systems wurde gesteigert durch die Ordnung der
mittelalterlichen Gesellschaft. In dieser war das Individuum
ganz in Verbände eingegliedert, von denen die Kirche und die
feudale Ordnung nur die gewaltigsten waren. Die Zweckinhalte
der Gesellschaft, welche am meisten der Freiheit zu bedürfen
scheinen, waren von der Autorität und der Korporation getragen

Dilthey, Einleitung. 29

Sein Unterſchied vom mittelalterlichen Menſchen.
Gefühlen und Ideen eine ſeltene Sicherheit und Tiefe im Mittel-
alter gab, hat doch alle ſelbſtändigen Zweckzuſammenhänge bis zu
einem gewiſſen Grade gebunden. Die Legirung des Chriſtenthums
mit der antiken Wiſſenſchaft hat die Lauterkeit der religiöſen Er-
fahrung beeinträchtigt. Die korporative und autoritative Bindung
der Individuen hat die freie Beziehung der Thätigkeiten von Per-
ſonen auf einander in Gebieten, welche wie Wiſſenſchaft und
Religion in der Freiheit ihren Lebensathem haben, gehemmt. So
haben die Lebensbedingungen des Mittelalters den Reichthum
höheren Daſeins zu einem von der Kirche geleiteten Zuſammen-
hang verwebt, in dem das Chriſtenthum ſich an eine metaphyſiſche
Wiſſenſchaft verlor, Wiſſenſchaft und Kunſt innerlich und äußer-
lich gefeſſelt waren. Dieſer Zuſammenhang der Bildung hatte
in der äußeren Organiſation der Kirche ſeinen Körper. Ihm
gegenüber war Alles, was ſonſt im mittelalterlichen Menſchen
ſich regte, Weltlichkeit, die vernichtet oder unterworfen werden
mußte. So ging durch ſeine Seele derſelbe Zwieſpalt, welcher
die Geſellſchaft jener Tage in die kaiſerliche und kirchliche Gewalt
auseinanderriß. Naturwuchs des Staatslebens, Verharren der
Individuen in den urſprünglichen Beziehungen zum Boden, Be-
ſonderheit, perſönliches Verhältniß und perſönlicher Verband, unter
Zurücktreten allgemeiner Rechtsregeln, dazu ein jugendliches Un-
geſtüm in der germaniſchen Race und den durch ſie mit neuem
Blute erfüllten älteren Völkern: dies Alles hatte in dem Men-
ſchen jener Zeit ungebändigtes Leben der Sinne und des Willens
zur Folge. Aber in ſeiner Seele kämpfte hiergegen der Glaube
an ein transſcendentes Reich, welches durch die Kirche, den
Kleriker und das Sakrament in das Diesſeits herüberwirkt und
aus dem göttliche Kräfte beſtändig ausſtrahlen. Die Macht dieſes
objektiven Syſtems wurde geſteigert durch die Ordnung der
mittelalterlichen Geſellſchaft. In dieſer war das Individuum
ganz in Verbände eingegliedert, von denen die Kirche und die
feudale Ordnung nur die gewaltigſten waren. Die Zweckinhalte
der Geſellſchaft, welche am meiſten der Freiheit zu bedürfen
ſcheinen, waren von der Autorität und der Korporation getragen

Dilthey, Einleitung. 29
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0472" n="449"/><fw place="top" type="header">Sein Unter&#x017F;chied vom mittelalterlichen Men&#x017F;chen.</fw><lb/>
Gefühlen und Ideen eine &#x017F;eltene Sicherheit und Tiefe im Mittel-<lb/>
alter gab, hat doch alle &#x017F;elb&#x017F;tändigen Zweckzu&#x017F;ammenhänge bis zu<lb/>
einem gewi&#x017F;&#x017F;en Grade gebunden. Die Legirung des Chri&#x017F;tenthums<lb/>
mit der antiken Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft hat die Lauterkeit der religiö&#x017F;en Er-<lb/>
fahrung beeinträchtigt. Die korporative und autoritative Bindung<lb/>
der Individuen hat die freie Beziehung der Thätigkeiten von Per-<lb/>
&#x017F;onen auf einander in Gebieten, welche wie Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft und<lb/>
Religion in der Freiheit ihren Lebensathem haben, gehemmt. So<lb/>
haben die Lebensbedingungen des Mittelalters den Reichthum<lb/>
höheren Da&#x017F;eins zu einem von der Kirche geleiteten Zu&#x017F;ammen-<lb/>
hang verwebt, in dem das Chri&#x017F;tenthum &#x017F;ich an eine metaphy&#x017F;i&#x017F;che<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft verlor, Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft und Kun&#x017F;t innerlich und äußer-<lb/>
lich gefe&#x017F;&#x017F;elt waren. Die&#x017F;er Zu&#x017F;ammenhang der Bildung hatte<lb/>
in der äußeren Organi&#x017F;ation der Kirche &#x017F;einen Körper. Ihm<lb/>
gegenüber war Alles, was &#x017F;on&#x017F;t im mittelalterlichen Men&#x017F;chen<lb/>
&#x017F;ich regte, Weltlichkeit, die vernichtet oder unterworfen werden<lb/>
mußte. So ging durch &#x017F;eine Seele der&#x017F;elbe Zwie&#x017F;palt, welcher<lb/>
die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft jener Tage in die kai&#x017F;erliche und kirchliche Gewalt<lb/>
auseinanderriß. Naturwuchs des Staatslebens, Verharren der<lb/>
Individuen in den ur&#x017F;prünglichen Beziehungen zum Boden, Be-<lb/>
&#x017F;onderheit, per&#x017F;önliches Verhältniß und per&#x017F;önlicher Verband, unter<lb/>
Zurücktreten allgemeiner Rechtsregeln, dazu ein jugendliches Un-<lb/>
ge&#x017F;tüm in der germani&#x017F;chen Race und den durch &#x017F;ie mit neuem<lb/>
Blute erfüllten älteren Völkern: dies Alles hatte in dem Men-<lb/>
&#x017F;chen jener Zeit ungebändigtes Leben der Sinne und des Willens<lb/>
zur Folge. Aber in &#x017F;einer Seele kämpfte hiergegen der Glaube<lb/>
an ein trans&#x017F;cendentes Reich, welches durch die Kirche, den<lb/>
Kleriker und das Sakrament in das Dies&#x017F;eits herüberwirkt und<lb/>
aus dem göttliche Kräfte be&#x017F;tändig aus&#x017F;trahlen. Die Macht die&#x017F;es<lb/>
objektiven Sy&#x017F;tems wurde ge&#x017F;teigert durch die Ordnung der<lb/>
mittelalterlichen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft. In die&#x017F;er war das Individuum<lb/>
ganz in Verbände eingegliedert, von denen die Kirche und die<lb/>
feudale Ordnung nur die gewaltig&#x017F;ten waren. Die Zweckinhalte<lb/>
der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, welche am mei&#x017F;ten der Freiheit zu bedürfen<lb/>
&#x017F;cheinen, waren von der Autorität und der Korporation getragen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Dilthey</hi>, Einleitung. 29</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[449/0472] Sein Unterſchied vom mittelalterlichen Menſchen. Gefühlen und Ideen eine ſeltene Sicherheit und Tiefe im Mittel- alter gab, hat doch alle ſelbſtändigen Zweckzuſammenhänge bis zu einem gewiſſen Grade gebunden. Die Legirung des Chriſtenthums mit der antiken Wiſſenſchaft hat die Lauterkeit der religiöſen Er- fahrung beeinträchtigt. Die korporative und autoritative Bindung der Individuen hat die freie Beziehung der Thätigkeiten von Per- ſonen auf einander in Gebieten, welche wie Wiſſenſchaft und Religion in der Freiheit ihren Lebensathem haben, gehemmt. So haben die Lebensbedingungen des Mittelalters den Reichthum höheren Daſeins zu einem von der Kirche geleiteten Zuſammen- hang verwebt, in dem das Chriſtenthum ſich an eine metaphyſiſche Wiſſenſchaft verlor, Wiſſenſchaft und Kunſt innerlich und äußer- lich gefeſſelt waren. Dieſer Zuſammenhang der Bildung hatte in der äußeren Organiſation der Kirche ſeinen Körper. Ihm gegenüber war Alles, was ſonſt im mittelalterlichen Menſchen ſich regte, Weltlichkeit, die vernichtet oder unterworfen werden mußte. So ging durch ſeine Seele derſelbe Zwieſpalt, welcher die Geſellſchaft jener Tage in die kaiſerliche und kirchliche Gewalt auseinanderriß. Naturwuchs des Staatslebens, Verharren der Individuen in den urſprünglichen Beziehungen zum Boden, Be- ſonderheit, perſönliches Verhältniß und perſönlicher Verband, unter Zurücktreten allgemeiner Rechtsregeln, dazu ein jugendliches Un- geſtüm in der germaniſchen Race und den durch ſie mit neuem Blute erfüllten älteren Völkern: dies Alles hatte in dem Men- ſchen jener Zeit ungebändigtes Leben der Sinne und des Willens zur Folge. Aber in ſeiner Seele kämpfte hiergegen der Glaube an ein transſcendentes Reich, welches durch die Kirche, den Kleriker und das Sakrament in das Diesſeits herüberwirkt und aus dem göttliche Kräfte beſtändig ausſtrahlen. Die Macht dieſes objektiven Syſtems wurde geſteigert durch die Ordnung der mittelalterlichen Geſellſchaft. In dieſer war das Individuum ganz in Verbände eingegliedert, von denen die Kirche und die feudale Ordnung nur die gewaltigſten waren. Die Zweckinhalte der Geſellſchaft, welche am meiſten der Freiheit zu bedürfen ſcheinen, waren von der Autorität und der Korporation getragen Dilthey, Einleitung. 29

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/472
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/472>, abgerufen am 28.11.2024.