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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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und gebunden. Diese Abhängigkeit des mittelalterlichen Menschen
wurde vermehrt durch seine Stellung zu der gesammten histori-
schen Ueberlieferung, welche sein Denken wie in einem dichten
Walde von Traditionen festhielt. Und nicht der geringste unter
den Gründen, welche Selbstthätigkeit der Individuen und un-
abhängige Entfaltung der einzelnen Lebenszwecke in der Gesell-
schaft hinderten, bestand in einer Metaphysik, welche nach der
Lage der Wissenschaften in ihren Grundzügen siegreich sich be-
hauptete und der von der Kirche vertheidigten transscendenten Ord-
nung einen festen Stützpunkt gewährte. So erscheinen auch die
intellektuell gewaltigsten mittelalterlichen Denker nur als Re-
präsentanten dieser Weltansicht und Lebensordnung, vergleichbar
den großen feudalen und hierarchischen Häuptern der Gesellschaft
jener Tage. Was in ihnen individuell war, ordnete sich diesem
System unter, und darin war gegründet, daß der Denker eine
Weltmacht war. Wie einsam und verdüstert auch ein Dante seinen
Weg ging, seine ganze große Seele war diesem objektiven Zu-
sammenhang hingegeben, so gut als die eines Anselmus, Albertus
oder Thomas. Hierdurch wurde er zu der "Stimme zehn
schweigender Jahrhunderte".

Die wesenhafte Veränderung, die wir als Auftreten des
modernen Menschen bezeichnen, ist das Ergebniß eines zu-
sammengesetzten Bildungsprozesses, und ihre Erklärung würde eine
umfassende Untersuchung erfordern. -- Hier, wo es sich um Ent-
stehung und Recht des modernen wissenschaftlichen Bewußtseins
handelt, ist zunächst das Wichtigste, daß die vorher von den
Völkern der alten Welt vereinzelt erreichte Differenzirung und Ver-
selbständigung der Zweckzusammenhänge der Gesellschaft innerhalb
der neuen Generation der europäischen Völker verwirklicht wird.
Die geistige Bildung dieser Völker ruht auf der Selbstgewißheit
der religiösen Erfahrung, der Selbständigkeit der Wissenschaft,
der Befreiung der Phantasie in der Kunst; im Gegensatz zu der
früheren religiösen Gebundenheit. Eine solche neue Verfassung des
inneren Zusammenhangs der Kultur ist eine höhere Stufe in der
Entwicklung der neuen Generation europäischer Völker, da diese Na-

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
und gebunden. Dieſe Abhängigkeit des mittelalterlichen Menſchen
wurde vermehrt durch ſeine Stellung zu der geſammten hiſtori-
ſchen Ueberlieferung, welche ſein Denken wie in einem dichten
Walde von Traditionen feſthielt. Und nicht der geringſte unter
den Gründen, welche Selbſtthätigkeit der Individuen und un-
abhängige Entfaltung der einzelnen Lebenszwecke in der Geſell-
ſchaft hinderten, beſtand in einer Metaphyſik, welche nach der
Lage der Wiſſenſchaften in ihren Grundzügen ſiegreich ſich be-
hauptete und der von der Kirche vertheidigten transſcendenten Ord-
nung einen feſten Stützpunkt gewährte. So erſcheinen auch die
intellektuell gewaltigſten mittelalterlichen Denker nur als Re-
präſentanten dieſer Weltanſicht und Lebensordnung, vergleichbar
den großen feudalen und hierarchiſchen Häuptern der Geſellſchaft
jener Tage. Was in ihnen individuell war, ordnete ſich dieſem
Syſtem unter, und darin war gegründet, daß der Denker eine
Weltmacht war. Wie einſam und verdüſtert auch ein Dante ſeinen
Weg ging, ſeine ganze große Seele war dieſem objektiven Zu-
ſammenhang hingegeben, ſo gut als die eines Anſelmus, Albertus
oder Thomas. Hierdurch wurde er zu der „Stimme zehn
ſchweigender Jahrhunderte“.

Die weſenhafte Veränderung, die wir als Auftreten des
modernen Menſchen bezeichnen, iſt das Ergebniß eines zu-
ſammengeſetzten Bildungsprozeſſes, und ihre Erklärung würde eine
umfaſſende Unterſuchung erfordern. — Hier, wo es ſich um Ent-
ſtehung und Recht des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins
handelt, iſt zunächſt das Wichtigſte, daß die vorher von den
Völkern der alten Welt vereinzelt erreichte Differenzirung und Ver-
ſelbſtändigung der Zweckzuſammenhänge der Geſellſchaft innerhalb
der neuen Generation der europäiſchen Völker verwirklicht wird.
Die geiſtige Bildung dieſer Völker ruht auf der Selbſtgewißheit
der religiöſen Erfahrung, der Selbſtändigkeit der Wiſſenſchaft,
der Befreiung der Phantaſie in der Kunſt; im Gegenſatz zu der
früheren religiöſen Gebundenheit. Eine ſolche neue Verfaſſung des
inneren Zuſammenhangs der Kultur iſt eine höhere Stufe in der
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[450/0473] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. und gebunden. Dieſe Abhängigkeit des mittelalterlichen Menſchen wurde vermehrt durch ſeine Stellung zu der geſammten hiſtori- ſchen Ueberlieferung, welche ſein Denken wie in einem dichten Walde von Traditionen feſthielt. Und nicht der geringſte unter den Gründen, welche Selbſtthätigkeit der Individuen und un- abhängige Entfaltung der einzelnen Lebenszwecke in der Geſell- ſchaft hinderten, beſtand in einer Metaphyſik, welche nach der Lage der Wiſſenſchaften in ihren Grundzügen ſiegreich ſich be- hauptete und der von der Kirche vertheidigten transſcendenten Ord- nung einen feſten Stützpunkt gewährte. So erſcheinen auch die intellektuell gewaltigſten mittelalterlichen Denker nur als Re- präſentanten dieſer Weltanſicht und Lebensordnung, vergleichbar den großen feudalen und hierarchiſchen Häuptern der Geſellſchaft jener Tage. Was in ihnen individuell war, ordnete ſich dieſem Syſtem unter, und darin war gegründet, daß der Denker eine Weltmacht war. Wie einſam und verdüſtert auch ein Dante ſeinen Weg ging, ſeine ganze große Seele war dieſem objektiven Zu- ſammenhang hingegeben, ſo gut als die eines Anſelmus, Albertus oder Thomas. Hierdurch wurde er zu der „Stimme zehn ſchweigender Jahrhunderte“. Die weſenhafte Veränderung, die wir als Auftreten des modernen Menſchen bezeichnen, iſt das Ergebniß eines zu- ſammengeſetzten Bildungsprozeſſes, und ihre Erklärung würde eine umfaſſende Unterſuchung erfordern. — Hier, wo es ſich um Ent- ſtehung und Recht des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins handelt, iſt zunächſt das Wichtigſte, daß die vorher von den Völkern der alten Welt vereinzelt erreichte Differenzirung und Ver- ſelbſtändigung der Zweckzuſammenhänge der Geſellſchaft innerhalb der neuen Generation der europäiſchen Völker verwirklicht wird. Die geiſtige Bildung dieſer Völker ruht auf der Selbſtgewißheit der religiöſen Erfahrung, der Selbſtändigkeit der Wiſſenſchaft, der Befreiung der Phantaſie in der Kunſt; im Gegenſatz zu der früheren religiöſen Gebundenheit. Eine ſolche neue Verfaſſung des inneren Zuſammenhangs der Kultur iſt eine höhere Stufe in der Entwicklung der neuen Generation europäiſcher Völker, da dieſe Na-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/473>, abgerufen am 28.11.2024.