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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Funktion der Metaphysik in der Gesellschaft ändert sich.

So entstanden, als die eigenthümlichen Erzeugnisse der
modernen Wissenschaft, Erforschung der Kausalgesetze der Wirk-
lichkeit auf dem Gebiete der Natur wie der gesellschaftlich-geschicht-
lichen Welt und Theorie der Erkenntniß. Diese beiden führen
seitdem den Vernichtungskrieg gegen die Metaphysik, und jetzt
ist ihre Tendenz, auf der Grundlage der Erkenntnißtheorie einen
Zusammenhang der Einzelwissenschaften der Wirklichkeit herzustellen.

Und hat sich nun in dieser modernen Welt, an deren Ein-
gang wir stehen, Metaphysik zu vertheidigen versucht,
so ändert sich doch allmälig ihr Charakter und ihre Lage. --
Die Stelle, die sie im Zusammenhang der Wissen-
schaften
zu behaupten versucht, ist eine andere. Denn indem
die positiven Wissenschaften die Wirklichkeit analysiren und die
allgemeinsten Bedingungen derselben in einem System von Ele-
menten und Gesetzen festzustellen streben, indem sie sich der
Stellung dieser Sätze zur Wirklichkeit wie zum Bewußtsein kritisch
bewußt werden: verliert die Metaphysik ihren Platz als Grund-
lage der Erklärung der Wirklichkeit in den Einzelwissenschaften,
und ihr bleibt nur als mögliche Aufgabe, die Ergebnisse der posi-
tiven Wissenschaften in einer allgemeinen Weltansicht abzuschließen.
Der Grad von Wahrscheinlichkeit, der einem solchen Versuche
erreichbar ist, kann nur ein bescheidener sein. -- Ebenso ändert
sich die Funktion solcher metaphysischen Systeme in der Ge-
sellschaft
. Ueberall wo Metaphysik fortbestand, wandelte sie sich
in ein bloßes Privatsystem ihres Urhebers und derjenigen Personen,
welche sich vermöge einer gleichen Verfassung der Seele von diesem
Privatsystem angezogen fanden. Dies war durch die veränderte
Lage bedingt. Dieselbe hat die Macht einer einheitlichen mono-
theistischen Metaphysik gebrochen. Die veränderten physikalischen
und astronomischen Grundbegriffe haben die Schlüsse der mono-
theistischen Metaphysik zerstört. Eine freie Mannigfaltigkeit
von metaphysischen Systemen, deren keines erweisbar ist,
hat sich nun gebildet. So blieb der Metaphysik nur die Aufgabe,
Centren zu schaffen, in welchen die Ergebnisse der positiven Wissen-
schaften sich zu einem befriedigenden allgemeinen Zusammenhang

Die Funktion der Metaphyſik in der Geſellſchaft ändert ſich.

So entſtanden, als die eigenthümlichen Erzeugniſſe der
modernen Wiſſenſchaft, Erforſchung der Kauſalgeſetze der Wirk-
lichkeit auf dem Gebiete der Natur wie der geſellſchaftlich-geſchicht-
lichen Welt und Theorie der Erkenntniß. Dieſe beiden führen
ſeitdem den Vernichtungskrieg gegen die Metaphyſik, und jetzt
iſt ihre Tendenz, auf der Grundlage der Erkenntnißtheorie einen
Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften der Wirklichkeit herzuſtellen.

Und hat ſich nun in dieſer modernen Welt, an deren Ein-
gang wir ſtehen, Metaphyſik zu vertheidigen verſucht,
ſo ändert ſich doch allmälig ihr Charakter und ihre Lage. —
Die Stelle, die ſie im Zuſammenhang der Wiſſen-
ſchaften
zu behaupten verſucht, iſt eine andere. Denn indem
die poſitiven Wiſſenſchaften die Wirklichkeit analyſiren und die
allgemeinſten Bedingungen derſelben in einem Syſtem von Ele-
menten und Geſetzen feſtzuſtellen ſtreben, indem ſie ſich der
Stellung dieſer Sätze zur Wirklichkeit wie zum Bewußtſein kritiſch
bewußt werden: verliert die Metaphyſik ihren Platz als Grund-
lage der Erklärung der Wirklichkeit in den Einzelwiſſenſchaften,
und ihr bleibt nur als mögliche Aufgabe, die Ergebniſſe der poſi-
tiven Wiſſenſchaften in einer allgemeinen Weltanſicht abzuſchließen.
Der Grad von Wahrſcheinlichkeit, der einem ſolchen Verſuche
erreichbar iſt, kann nur ein beſcheidener ſein. — Ebenſo ändert
ſich die Funktion ſolcher metaphyſiſchen Syſteme in der Ge-
ſellſchaft
. Ueberall wo Metaphyſik fortbeſtand, wandelte ſie ſich
in ein bloßes Privatſyſtem ihres Urhebers und derjenigen Perſonen,
welche ſich vermöge einer gleichen Verfaſſung der Seele von dieſem
Privatſyſtem angezogen fanden. Dies war durch die veränderte
Lage bedingt. Dieſelbe hat die Macht einer einheitlichen mono-
theiſtiſchen Metaphyſik gebrochen. Die veränderten phyſikaliſchen
und aſtronomiſchen Grundbegriffe haben die Schlüſſe der mono-
theiſtiſchen Metaphyſik zerſtört. Eine freie Mannigfaltigkeit
von metaphyſiſchen Syſtemen, deren keines erweisbar iſt,
hat ſich nun gebildet. So blieb der Metaphyſik nur die Aufgabe,
Centren zu ſchaffen, in welchen die Ergebniſſe der poſitiven Wiſſen-
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[455/0478] Die Funktion der Metaphyſik in der Geſellſchaft ändert ſich. So entſtanden, als die eigenthümlichen Erzeugniſſe der modernen Wiſſenſchaft, Erforſchung der Kauſalgeſetze der Wirk- lichkeit auf dem Gebiete der Natur wie der geſellſchaftlich-geſchicht- lichen Welt und Theorie der Erkenntniß. Dieſe beiden führen ſeitdem den Vernichtungskrieg gegen die Metaphyſik, und jetzt iſt ihre Tendenz, auf der Grundlage der Erkenntnißtheorie einen Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften der Wirklichkeit herzuſtellen. Und hat ſich nun in dieſer modernen Welt, an deren Ein- gang wir ſtehen, Metaphyſik zu vertheidigen verſucht, ſo ändert ſich doch allmälig ihr Charakter und ihre Lage. — Die Stelle, die ſie im Zuſammenhang der Wiſſen- ſchaften zu behaupten verſucht, iſt eine andere. Denn indem die poſitiven Wiſſenſchaften die Wirklichkeit analyſiren und die allgemeinſten Bedingungen derſelben in einem Syſtem von Ele- menten und Geſetzen feſtzuſtellen ſtreben, indem ſie ſich der Stellung dieſer Sätze zur Wirklichkeit wie zum Bewußtſein kritiſch bewußt werden: verliert die Metaphyſik ihren Platz als Grund- lage der Erklärung der Wirklichkeit in den Einzelwiſſenſchaften, und ihr bleibt nur als mögliche Aufgabe, die Ergebniſſe der poſi- tiven Wiſſenſchaften in einer allgemeinen Weltanſicht abzuſchließen. Der Grad von Wahrſcheinlichkeit, der einem ſolchen Verſuche erreichbar iſt, kann nur ein beſcheidener ſein. — Ebenſo ändert ſich die Funktion ſolcher metaphyſiſchen Syſteme in der Ge- ſellſchaft. Ueberall wo Metaphyſik fortbeſtand, wandelte ſie ſich in ein bloßes Privatſyſtem ihres Urhebers und derjenigen Perſonen, welche ſich vermöge einer gleichen Verfaſſung der Seele von dieſem Privatſyſtem angezogen fanden. Dies war durch die veränderte Lage bedingt. Dieſelbe hat die Macht einer einheitlichen mono- theiſtiſchen Metaphyſik gebrochen. Die veränderten phyſikaliſchen und aſtronomiſchen Grundbegriffe haben die Schlüſſe der mono- theiſtiſchen Metaphyſik zerſtört. Eine freie Mannigfaltigkeit von metaphyſiſchen Syſtemen, deren keines erweisbar iſt, hat ſich nun gebildet. So blieb der Metaphyſik nur die Aufgabe, Centren zu ſchaffen, in welchen die Ergebniſſe der poſitiven Wiſſen- ſchaften ſich zu einem befriedigenden allgemeinen Zuſammenhang

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/478>, abgerufen am 29.11.2024.