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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Auffindung von Gesetzen des geistigen Lebens.
augenscheinlich dem Naturbegriff der Trägheit das Lebendige des
um sich greifenden Willens unter. Nach denselben Prinzipien ist
der weitere Aufbau einer Mechanik der psychischen Totalzustände
(affectus) bei Spinoza durchgeführt. Er zieht Gesetze hinzu, denen
gemäß psychische Totalzustände auf ihre Ursachen zurückbezogen,
nach Gleichartigkeit und Aehnlichkeit zurückgerufen und fremde
Gemüthszustände in der Sympathie auf das Eigenleben übertragen
werden. Wol war diese Theorie höchst unvollkommen. Der
todte und starre Begriff der Selbsterhaltung drückt den Lebensdrang
nicht zureichend aus; wenn wir die Theorie durch den Satz er-
gänzen, daß die Gefühle ein Innewerden der Zustände des Willens
sind, so kann nur ein Theil der Gefühlszustände dieser Voraus-
setzung untergeordnet werden; und die Sympathie wird nur durch
einen Trugschluß aus der Selbsterhaltung abgeleitet 1) Aber die
außerordentliche Bedeutung von Spinozas Theorie lag darin, daß
sie im Geiste der großen Entdeckungen der Mechanik und Astronomie
die scheinbar regellosen und von Willkür geleiteten Totalzustände
des psychischen Lebens dem einfachen Gesetz der Selbsterhaltung
unterzuordnen den Versuch machte. Dies geschieht, indem die Lebens-
einheit, der Modus Mensch, welcher sich zu erhalten strebt, in das
System der Bedingungen gleichsam hineingezeichnet wird, welches
sein Milieu bildet. Dadurch daß für die Selbsterhaltung För-
derungen von außen und Hemmungen in diesem Zusammenhang
abgeleitet und die so entstehenden Affektionen unter Grundgesetze
der Verkettung psychischer Zustände gestellt werden, entsteht ein
Schema des Kausalsystems der psychischen Zustände. Feste Stellen
werden bezeichnet, an welchen in den so entworfenen mechanischen
Zusammenhang die einzelnen psychischen Erlebnisse eingesetzt werden.
Die Definitionen der Totalzustände sind nur solche Bestimmungen
der Stelle derselben in der Konstruktion des Mechanismus der
Selbsterhaltung, und ihnen fehlte nur die quantitative Be-
stimmung, um äußerlich den Anforderungen einer Erklärung zu
entsprechen.


1) Spinoza Eth. III prop. 16 und 27.

Auffindung von Geſetzen des geiſtigen Lebens.
augenſcheinlich dem Naturbegriff der Trägheit das Lebendige des
um ſich greifenden Willens unter. Nach denſelben Prinzipien iſt
der weitere Aufbau einer Mechanik der pſychiſchen Totalzuſtände
(affectus) bei Spinoza durchgeführt. Er zieht Geſetze hinzu, denen
gemäß pſychiſche Totalzuſtände auf ihre Urſachen zurückbezogen,
nach Gleichartigkeit und Aehnlichkeit zurückgerufen und fremde
Gemüthszuſtände in der Sympathie auf das Eigenleben übertragen
werden. Wol war dieſe Theorie höchſt unvollkommen. Der
todte und ſtarre Begriff der Selbſterhaltung drückt den Lebensdrang
nicht zureichend aus; wenn wir die Theorie durch den Satz er-
gänzen, daß die Gefühle ein Innewerden der Zuſtände des Willens
ſind, ſo kann nur ein Theil der Gefühlszuſtände dieſer Voraus-
ſetzung untergeordnet werden; und die Sympathie wird nur durch
einen Trugſchluß aus der Selbſterhaltung abgeleitet 1) Aber die
außerordentliche Bedeutung von Spinozas Theorie lag darin, daß
ſie im Geiſte der großen Entdeckungen der Mechanik und Aſtronomie
die ſcheinbar regelloſen und von Willkür geleiteten Totalzuſtände
des pſychiſchen Lebens dem einfachen Geſetz der Selbſterhaltung
unterzuordnen den Verſuch machte. Dies geſchieht, indem die Lebens-
einheit, der Modus Menſch, welcher ſich zu erhalten ſtrebt, in das
Syſtem der Bedingungen gleichſam hineingezeichnet wird, welches
ſein Milieu bildet. Dadurch daß für die Selbſterhaltung För-
derungen von außen und Hemmungen in dieſem Zuſammenhang
abgeleitet und die ſo entſtehenden Affektionen unter Grundgeſetze
der Verkettung pſychiſcher Zuſtände geſtellt werden, entſteht ein
Schema des Kauſalſyſtems der pſychiſchen Zuſtände. Feſte Stellen
werden bezeichnet, an welchen in den ſo entworfenen mechaniſchen
Zuſammenhang die einzelnen pſychiſchen Erlebniſſe eingeſetzt werden.
Die Definitionen der Totalzuſtände ſind nur ſolche Beſtimmungen
der Stelle derſelben in der Konſtruktion des Mechanismus der
Selbſterhaltung, und ihnen fehlte nur die quantitative Be-
ſtimmung, um äußerlich den Anforderungen einer Erklärung zu
entſprechen.


1) Spinoza Eth. III prop. 16 und 27.
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[479/0502] Auffindung von Geſetzen des geiſtigen Lebens. augenſcheinlich dem Naturbegriff der Trägheit das Lebendige des um ſich greifenden Willens unter. Nach denſelben Prinzipien iſt der weitere Aufbau einer Mechanik der pſychiſchen Totalzuſtände (affectus) bei Spinoza durchgeführt. Er zieht Geſetze hinzu, denen gemäß pſychiſche Totalzuſtände auf ihre Urſachen zurückbezogen, nach Gleichartigkeit und Aehnlichkeit zurückgerufen und fremde Gemüthszuſtände in der Sympathie auf das Eigenleben übertragen werden. Wol war dieſe Theorie höchſt unvollkommen. Der todte und ſtarre Begriff der Selbſterhaltung drückt den Lebensdrang nicht zureichend aus; wenn wir die Theorie durch den Satz er- gänzen, daß die Gefühle ein Innewerden der Zuſtände des Willens ſind, ſo kann nur ein Theil der Gefühlszuſtände dieſer Voraus- ſetzung untergeordnet werden; und die Sympathie wird nur durch einen Trugſchluß aus der Selbſterhaltung abgeleitet 1) Aber die außerordentliche Bedeutung von Spinozas Theorie lag darin, daß ſie im Geiſte der großen Entdeckungen der Mechanik und Aſtronomie die ſcheinbar regelloſen und von Willkür geleiteten Totalzuſtände des pſychiſchen Lebens dem einfachen Geſetz der Selbſterhaltung unterzuordnen den Verſuch machte. Dies geſchieht, indem die Lebens- einheit, der Modus Menſch, welcher ſich zu erhalten ſtrebt, in das Syſtem der Bedingungen gleichſam hineingezeichnet wird, welches ſein Milieu bildet. Dadurch daß für die Selbſterhaltung För- derungen von außen und Hemmungen in dieſem Zuſammenhang abgeleitet und die ſo entſtehenden Affektionen unter Grundgeſetze der Verkettung pſychiſcher Zuſtände geſtellt werden, entſteht ein Schema des Kauſalſyſtems der pſychiſchen Zuſtände. Feſte Stellen werden bezeichnet, an welchen in den ſo entworfenen mechaniſchen Zuſammenhang die einzelnen pſychiſchen Erlebniſſe eingeſetzt werden. Die Definitionen der Totalzuſtände ſind nur ſolche Beſtimmungen der Stelle derſelben in der Konſtruktion des Mechanismus der Selbſterhaltung, und ihnen fehlte nur die quantitative Be- ſtimmung, um äußerlich den Anforderungen einer Erklärung zu entſprechen. 1) Spinoza Eth. III prop. 16 und 27.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/502>, abgerufen am 21.11.2024.