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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.

Versuche, solche Leistungen überschreitend, die Gesammt-
gliederung der Wissenschaften zu entdecken, welche die geschichtlich-
gesellschaftliche Wirklichkeit zum Gegenstande haben, sind von der
Philosophie ausgegangen. Sofern sie von metaphysischen Prinzipien
her diesen Zusammenhang abzuleiten versuchten, sind sie dem
Schicksal aller Metaphysik anheimgefallen. Einer besseren Methode
bediente sich schon Bacon, indem er mit dem Problem einer Er-
kenntniß der Wirklichkeit durch Erfahrung die vorhandenen Wissen-
schaften des Geistes in Beziehung setzte und ihre Leistungen wie ihre
Mängel an der Aufgabe maß. Comenius beabsichtigte in seiner
Pansophia aus dem Verhältniß der inneren Abhängigkeit der
Wahrheiten von einander die Stufenfolge, in welcher sie im Unter-
richt auftreten müssen, abzuleiten, und wie er so im Gegensatz
gegen den falschen Begriff der formalen Bildung den Grundgedanken
eines künftigen Unterrichtswesens (das leider auch heute noch Zu-
kunft ist) entdeckte, hat er durch das Prinzip der Abhängigkeit der
Wahrheiten von einander eine angemessene Gliederung der Wissen-
schaften vorbereitet. Indem Comte die Beziehung zwischen diesem
logischen Verhältniß von Abhängigkeit, in welchem Wahrheiten zu
einander stehen, und dem geschichtlichen Verhältniß der Abfolge,
in welchem sie auftreten, der Untersuchung unterwarf: schuf er die
Grundlage für eine wahre Philosophie der Wissenschaften. Die Con-
stitution der Wissenschaften der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklich-
keit betrachtete er als das Ziel seiner großen Arbeit und in der That
brachte sein Werk eine starke Bewegung in dieser Richtung hervor;
Mill, Littre, Herbert Spencer haben das Problem des Zusammen-
hangs der geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften aufgenommen1).

kurze Darstellung des theologischen Studiums. Zuerst Berlin 1810. Zweite
umgearbeitete Ausg. 1830. Böckh, Encyklopädie und Methodologie der philo-
logischen Wissenschaften, herausgegeben von Bratuschek. 1877.
1) Eine Uebersicht der Probleme der Geisteswissenschaften nach dem
inneren Zusammenhang, in welchem sie methodisch zu einander stehen,
und in welchem folgerecht ihre Auflösung herbeigeführt werden kann, findet
man entworfen in: Auguste Comte, Cours de philosophie positive 1830--
1842, vom vierten bis sechsten Bande. Seine späteren Werke, welche einen
veränderten Standpunkt enthalten, können einem solchen Zweck nicht dienen.
Erſtes einleitendes Buch.

Verſuche, ſolche Leiſtungen überſchreitend, die Geſammt-
gliederung der Wiſſenſchaften zu entdecken, welche die geſchichtlich-
geſellſchaftliche Wirklichkeit zum Gegenſtande haben, ſind von der
Philoſophie ausgegangen. Sofern ſie von metaphyſiſchen Prinzipien
her dieſen Zuſammenhang abzuleiten verſuchten, ſind ſie dem
Schickſal aller Metaphyſik anheimgefallen. Einer beſſeren Methode
bediente ſich ſchon Bacon, indem er mit dem Problem einer Er-
kenntniß der Wirklichkeit durch Erfahrung die vorhandenen Wiſſen-
ſchaften des Geiſtes in Beziehung ſetzte und ihre Leiſtungen wie ihre
Mängel an der Aufgabe maß. Comenius beabſichtigte in ſeiner
Panſophia aus dem Verhältniß der inneren Abhängigkeit der
Wahrheiten von einander die Stufenfolge, in welcher ſie im Unter-
richt auftreten müſſen, abzuleiten, und wie er ſo im Gegenſatz
gegen den falſchen Begriff der formalen Bildung den Grundgedanken
eines künftigen Unterrichtsweſens (das leider auch heute noch Zu-
kunft iſt) entdeckte, hat er durch das Prinzip der Abhängigkeit der
Wahrheiten von einander eine angemeſſene Gliederung der Wiſſen-
ſchaften vorbereitet. Indem Comte die Beziehung zwiſchen dieſem
logiſchen Verhältniß von Abhängigkeit, in welchem Wahrheiten zu
einander ſtehen, und dem geſchichtlichen Verhältniß der Abfolge,
in welchem ſie auftreten, der Unterſuchung unterwarf: ſchuf er die
Grundlage für eine wahre Philoſophie der Wiſſenſchaften. Die Con-
ſtitution der Wiſſenſchaften der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklich-
keit betrachtete er als das Ziel ſeiner großen Arbeit und in der That
brachte ſein Werk eine ſtarke Bewegung in dieſer Richtung hervor;
Mill, Littré, Herbert Spencer haben das Problem des Zuſammen-
hangs der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften aufgenommen1).

kurze Darſtellung des theologiſchen Studiums. Zuerſt Berlin 1810. Zweite
umgearbeitete Ausg. 1830. Böckh, Encyklopädie und Methodologie der philo-
logiſchen Wiſſenſchaften, herausgegeben von Bratuſchek. 1877.
1) Eine Ueberſicht der Probleme der Geiſteswiſſenſchaften nach dem
inneren Zuſammenhang, in welchem ſie methodiſch zu einander ſtehen,
und in welchem folgerecht ihre Auflöſung herbeigeführt werden kann, findet
man entworfen in: Auguste Comte, Cours de philosophie positive 1830—
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[28/0051] Erſtes einleitendes Buch. Verſuche, ſolche Leiſtungen überſchreitend, die Geſammt- gliederung der Wiſſenſchaften zu entdecken, welche die geſchichtlich- geſellſchaftliche Wirklichkeit zum Gegenſtande haben, ſind von der Philoſophie ausgegangen. Sofern ſie von metaphyſiſchen Prinzipien her dieſen Zuſammenhang abzuleiten verſuchten, ſind ſie dem Schickſal aller Metaphyſik anheimgefallen. Einer beſſeren Methode bediente ſich ſchon Bacon, indem er mit dem Problem einer Er- kenntniß der Wirklichkeit durch Erfahrung die vorhandenen Wiſſen- ſchaften des Geiſtes in Beziehung ſetzte und ihre Leiſtungen wie ihre Mängel an der Aufgabe maß. Comenius beabſichtigte in ſeiner Panſophia aus dem Verhältniß der inneren Abhängigkeit der Wahrheiten von einander die Stufenfolge, in welcher ſie im Unter- richt auftreten müſſen, abzuleiten, und wie er ſo im Gegenſatz gegen den falſchen Begriff der formalen Bildung den Grundgedanken eines künftigen Unterrichtsweſens (das leider auch heute noch Zu- kunft iſt) entdeckte, hat er durch das Prinzip der Abhängigkeit der Wahrheiten von einander eine angemeſſene Gliederung der Wiſſen- ſchaften vorbereitet. Indem Comte die Beziehung zwiſchen dieſem logiſchen Verhältniß von Abhängigkeit, in welchem Wahrheiten zu einander ſtehen, und dem geſchichtlichen Verhältniß der Abfolge, in welchem ſie auftreten, der Unterſuchung unterwarf: ſchuf er die Grundlage für eine wahre Philoſophie der Wiſſenſchaften. Die Con- ſtitution der Wiſſenſchaften der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklich- keit betrachtete er als das Ziel ſeiner großen Arbeit und in der That brachte ſein Werk eine ſtarke Bewegung in dieſer Richtung hervor; Mill, Littré, Herbert Spencer haben das Problem des Zuſammen- hangs der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften aufgenommen 1). 2) 1) Eine Ueberſicht der Probleme der Geiſteswiſſenſchaften nach dem inneren Zuſammenhang, in welchem ſie methodiſch zu einander ſtehen, und in welchem folgerecht ihre Auflöſung herbeigeführt werden kann, findet man entworfen in: Auguste Comte, Cours de philosophie positive 1830— 1842, vom vierten bis ſechſten Bande. Seine ſpäteren Werke, welche einen veränderten Standpunkt enthalten, können einem ſolchen Zweck nicht dienen. 2) kurze Darſtellung des theologiſchen Studiums. Zuerſt Berlin 1810. Zweite umgearbeitete Ausg. 1830. Böckh, Encyklopädie und Methodologie der philo- logiſchen Wiſſenſchaften, herausgegeben von Bratuſchek. 1877.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/51>, abgerufen am 21.11.2024.