Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Metaphysischer Abschluß der Erfahrungswissenschaft unmöglich.
die letzten Begriffe der Einzelwissenschaften in einer objektiven und
endgültigen Weise zu verknüpfen.

Denn was bedeutet die Vorstellbarkeit oder Denkbarkeit
jener letzten Thatbestände, zu welchen die Einzelwissenschaften vor-
dringen, wie die Metaphysik sie herzustellen strebt? Wenn die Meta-
physik diese Thatbestände in einer faßbaren Vorstellung vereinigen
will, so steht ihr zu diesem Zweck zunächst nur der Satz des
Widerspruchs zur Verfügung. Wo aber zwischen zwei Beding-
ungen des Systems der Erfahrungen ein Widerspruch besteht, da
bedarf es eines positiven Prinzips, um zwischen den wider-
sprechenden Sätzen zu entscheiden. Wenn ein Metaphysiker be-
hauptet, nur auf Grund dieses Satzes des Widerspruchs die
letzten Thatsachen, zu denen Wissenschaft gelangt, zur Denkbarkeit
zu verknüpfen, dann lassen sich stets positive Gedanken nachweisen,
welche insgeheim seine Entscheidungen leiten. Denkbarkeit muß
also hier mehr bedeuten als Widerspruchslosigkeit. Auch stellen
in der That die metaphysischen Systeme ihren Zusammenhang
durch Mittel von einer ganz andern inhaltlichen Mächtigkeit her.
Denkbarkeit ist hier nur ein abstrakter Ausdruck für Vorstell-
barkeit, diese aber enthält nichts anderes, als daß das Denken,
wenn es den festen Boden der Wirklichkeit und der Analysis
verläßt, trotzdem von Residuen des in ihr Enthal-
tenen geleitet wird
. Innerhalb dieses Umkreises der Vor-
stellbarkeit erscheint dann vielfach das Entgegengesetzte als gleich
möglich, ja zwingend. Ein bekanntes Wort von Leibniz lautet:
Die Monaden seien ohne Fenster, Lotze bemerkt hierzu mit Recht:
"Ich würde mich nicht wundern, wenn Leibniz mit dem gleichen
bildlichen Ausdruck im Gegentheil gelehrt hätte, die Monaden
hätten Fenster, durch die ihre inneren Zustände mit einander
in Gemeinschaft träten, und diese Behauptung würde ungefähr
gleichviel Grund und vielleicht besseren Grund gehabt haben,
als die, welche er vorzog." 1) Die einen Metaphysiker halten
ihre Massentheilchen, jedes für sich, für fähig einzuwirken oder

1) Lotze, System der Philosaphie II, 125.
33*

Metaphyſiſcher Abſchluß der Erfahrungswiſſenſchaft unmöglich.
die letzten Begriffe der Einzelwiſſenſchaften in einer objektiven und
endgültigen Weiſe zu verknüpfen.

Denn was bedeutet die Vorſtellbarkeit oder Denkbarkeit
jener letzten Thatbeſtände, zu welchen die Einzelwiſſenſchaften vor-
dringen, wie die Metaphyſik ſie herzuſtellen ſtrebt? Wenn die Meta-
phyſik dieſe Thatbeſtände in einer faßbaren Vorſtellung vereinigen
will, ſo ſteht ihr zu dieſem Zweck zunächſt nur der Satz des
Widerſpruchs zur Verfügung. Wo aber zwiſchen zwei Beding-
ungen des Syſtems der Erfahrungen ein Widerſpruch beſteht, da
bedarf es eines poſitiven Prinzips, um zwiſchen den wider-
ſprechenden Sätzen zu entſcheiden. Wenn ein Metaphyſiker be-
hauptet, nur auf Grund dieſes Satzes des Widerſpruchs die
letzten Thatſachen, zu denen Wiſſenſchaft gelangt, zur Denkbarkeit
zu verknüpfen, dann laſſen ſich ſtets poſitive Gedanken nachweiſen,
welche insgeheim ſeine Entſcheidungen leiten. Denkbarkeit muß
alſo hier mehr bedeuten als Widerſpruchsloſigkeit. Auch ſtellen
in der That die metaphyſiſchen Syſteme ihren Zuſammenhang
durch Mittel von einer ganz andern inhaltlichen Mächtigkeit her.
Denkbarkeit iſt hier nur ein abſtrakter Ausdruck für Vorſtell-
barkeit, dieſe aber enthält nichts anderes, als daß das Denken,
wenn es den feſten Boden der Wirklichkeit und der Analyſis
verläßt, trotzdem von Reſiduen des in ihr Enthal-
tenen geleitet wird
. Innerhalb dieſes Umkreiſes der Vor-
ſtellbarkeit erſcheint dann vielfach das Entgegengeſetzte als gleich
möglich, ja zwingend. Ein bekanntes Wort von Leibniz lautet:
Die Monaden ſeien ohne Fenſter, Lotze bemerkt hierzu mit Recht:
„Ich würde mich nicht wundern, wenn Leibniz mit dem gleichen
bildlichen Ausdruck im Gegentheil gelehrt hätte, die Monaden
hätten Fenſter, durch die ihre inneren Zuſtände mit einander
in Gemeinſchaft träten, und dieſe Behauptung würde ungefähr
gleichviel Grund und vielleicht beſſeren Grund gehabt haben,
als die, welche er vorzog.“ 1) Die einen Metaphyſiker halten
ihre Maſſentheilchen, jedes für ſich, für fähig einzuwirken oder

1) Lotze, Syſtem der Philoſaphie II, 125.
33*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0538" n="515"/><fw place="top" type="header">Metaphy&#x017F;i&#x017F;cher Ab&#x017F;chluß der Erfahrungswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft unmöglich.</fw><lb/>
die letzten Begriffe der Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften in einer objektiven und<lb/>
endgültigen Wei&#x017F;e zu verknüpfen.</p><lb/>
              <p>Denn was bedeutet die <hi rendition="#g">Vor&#x017F;tellbarkeit</hi> oder <hi rendition="#g">Denkbarkeit</hi><lb/>
jener letzten Thatbe&#x017F;tände, zu welchen die Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften vor-<lb/>
dringen, wie die Metaphy&#x017F;ik &#x017F;ie herzu&#x017F;tellen &#x017F;trebt? Wenn die Meta-<lb/>
phy&#x017F;ik die&#x017F;e Thatbe&#x017F;tände in einer faßbaren Vor&#x017F;tellung vereinigen<lb/>
will, &#x017F;o &#x017F;teht ihr zu die&#x017F;em Zweck zunäch&#x017F;t nur der Satz des<lb/>
Wider&#x017F;pruchs zur Verfügung. Wo aber zwi&#x017F;chen zwei Beding-<lb/>
ungen des Sy&#x017F;tems der Erfahrungen ein Wider&#x017F;pruch be&#x017F;teht, da<lb/>
bedarf es eines po&#x017F;itiven Prinzips, um zwi&#x017F;chen den wider-<lb/>
&#x017F;prechenden Sätzen zu ent&#x017F;cheiden. Wenn ein Metaphy&#x017F;iker be-<lb/>
hauptet, nur auf Grund die&#x017F;es Satzes des Wider&#x017F;pruchs die<lb/>
letzten That&#x017F;achen, zu denen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft gelangt, zur Denkbarkeit<lb/>
zu verknüpfen, dann la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich &#x017F;tets po&#x017F;itive Gedanken nachwei&#x017F;en,<lb/>
welche insgeheim &#x017F;eine Ent&#x017F;cheidungen leiten. Denkbarkeit muß<lb/>
al&#x017F;o hier mehr bedeuten als Wider&#x017F;pruchslo&#x017F;igkeit. Auch &#x017F;tellen<lb/>
in der That die metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Sy&#x017F;teme ihren Zu&#x017F;ammenhang<lb/>
durch Mittel von einer ganz andern inhaltlichen Mächtigkeit her.<lb/>
Denkbarkeit i&#x017F;t hier nur ein ab&#x017F;trakter Ausdruck für Vor&#x017F;tell-<lb/>
barkeit, die&#x017F;e aber enthält nichts anderes, als daß <hi rendition="#g">das Denken</hi>,<lb/>
wenn es den fe&#x017F;ten <hi rendition="#g">Boden</hi> der <hi rendition="#g">Wirklichkeit</hi> und der Analy&#x017F;is<lb/><hi rendition="#g">verläßt</hi>, trotzdem von <hi rendition="#g">Re&#x017F;iduen des in ihr Enthal-<lb/>
tenen geleitet wird</hi>. Innerhalb die&#x017F;es Umkrei&#x017F;es der Vor-<lb/>
&#x017F;tellbarkeit er&#x017F;cheint dann vielfach das Entgegenge&#x017F;etzte als gleich<lb/>
möglich, ja zwingend. Ein bekanntes Wort von Leibniz lautet:<lb/>
Die Monaden &#x017F;eien ohne Fen&#x017F;ter, Lotze bemerkt hierzu mit Recht:<lb/>
&#x201E;Ich würde mich nicht wundern, wenn Leibniz mit dem gleichen<lb/>
bildlichen Ausdruck im Gegentheil gelehrt hätte, die Monaden<lb/>
hätten Fen&#x017F;ter, durch die ihre inneren Zu&#x017F;tände mit einander<lb/>
in Gemein&#x017F;chaft träten, und die&#x017F;e Behauptung würde ungefähr<lb/>
gleichviel Grund und vielleicht be&#x017F;&#x017F;eren Grund gehabt haben,<lb/>
als die, welche er vorzog.&#x201C; <note place="foot" n="1)">Lotze, Sy&#x017F;tem der Philo&#x017F;aphie <hi rendition="#aq">II</hi>, 125.</note> Die einen Metaphy&#x017F;iker halten<lb/>
ihre Ma&#x017F;&#x017F;entheilchen, jedes für &#x017F;ich, für fähig einzuwirken oder<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">33*</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[515/0538] Metaphyſiſcher Abſchluß der Erfahrungswiſſenſchaft unmöglich. die letzten Begriffe der Einzelwiſſenſchaften in einer objektiven und endgültigen Weiſe zu verknüpfen. Denn was bedeutet die Vorſtellbarkeit oder Denkbarkeit jener letzten Thatbeſtände, zu welchen die Einzelwiſſenſchaften vor- dringen, wie die Metaphyſik ſie herzuſtellen ſtrebt? Wenn die Meta- phyſik dieſe Thatbeſtände in einer faßbaren Vorſtellung vereinigen will, ſo ſteht ihr zu dieſem Zweck zunächſt nur der Satz des Widerſpruchs zur Verfügung. Wo aber zwiſchen zwei Beding- ungen des Syſtems der Erfahrungen ein Widerſpruch beſteht, da bedarf es eines poſitiven Prinzips, um zwiſchen den wider- ſprechenden Sätzen zu entſcheiden. Wenn ein Metaphyſiker be- hauptet, nur auf Grund dieſes Satzes des Widerſpruchs die letzten Thatſachen, zu denen Wiſſenſchaft gelangt, zur Denkbarkeit zu verknüpfen, dann laſſen ſich ſtets poſitive Gedanken nachweiſen, welche insgeheim ſeine Entſcheidungen leiten. Denkbarkeit muß alſo hier mehr bedeuten als Widerſpruchsloſigkeit. Auch ſtellen in der That die metaphyſiſchen Syſteme ihren Zuſammenhang durch Mittel von einer ganz andern inhaltlichen Mächtigkeit her. Denkbarkeit iſt hier nur ein abſtrakter Ausdruck für Vorſtell- barkeit, dieſe aber enthält nichts anderes, als daß das Denken, wenn es den feſten Boden der Wirklichkeit und der Analyſis verläßt, trotzdem von Reſiduen des in ihr Enthal- tenen geleitet wird. Innerhalb dieſes Umkreiſes der Vor- ſtellbarkeit erſcheint dann vielfach das Entgegengeſetzte als gleich möglich, ja zwingend. Ein bekanntes Wort von Leibniz lautet: Die Monaden ſeien ohne Fenſter, Lotze bemerkt hierzu mit Recht: „Ich würde mich nicht wundern, wenn Leibniz mit dem gleichen bildlichen Ausdruck im Gegentheil gelehrt hätte, die Monaden hätten Fenſter, durch die ihre inneren Zuſtände mit einander in Gemeinſchaft träten, und dieſe Behauptung würde ungefähr gleichviel Grund und vielleicht beſſeren Grund gehabt haben, als die, welche er vorzog.“ 1) Die einen Metaphyſiker halten ihre Maſſentheilchen, jedes für ſich, für fähig einzuwirken oder 1) Lotze, Syſtem der Philoſaphie II, 125. 33*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/538
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/538>, abgerufen am 26.05.2024.