Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Natur des Materials der Geisteswissenschaften. scheinlich. Interessen, welche dem Bedürfniß der Wissenschaftkeineswegs entsprechen, Bedingungen der Ueberlieferung, welche in keiner Beziehung zu diesem Bedürfniß stehen, haben den Bestand unserer geschichtlichen Kunde bestimmt. Von der Zeit ab, in welcher, um das Lagerfeuer versammelt, Stammes- und Kriegs- genossen von den Thaten ihrer Helden und dem göttlichen Ur- sprung ihres Stammes erzählten, hat das starke Interesse der Mitlebenden aus dem dunklen Flusse des gewöhnlichen menschlichen Lebens Thatsachen emporgehoben und bewahrt. Das Interesse einer späteren Zeit und geschichtliche Fügung haben darüber ent- schieden, was von diesen Thatsachen auf uns gelangen sollte. Geschichtschreibung, als eine freie Kunst der Darstellung, faßt einen einzelnen Theil dieses unermeßlichen Ganzen zusammen, der des Interesses unter irgend einem Gesichtspunkt werth erscheint. Dazu kommt: die heutige Gesellschaft lebt sozusagen auf den Schichten und Trümmern der Vergangenheit; die Niederschläge der Kulturarbeit in Sprache und Aberglaube, in Sitte und Recht, wie andererseits in materiellen Veränderungen, die über Auf- zeichnungen hinausgehen, enthalten eine Ueberlieferung, welche in unschätzbarer Weise die Aufzeichnungen unterstützt. Auch über ihre Erhaltung hat doch die Hand der geschichtlichen Fügung entschieden. Nur an zwei Punkten besteht ein den Anforderungen der Wissen- schaft entsprechender Zustand des Materials. Der Verlauf der geistigen Bewegungen in dem neueren Europa ist in den Schriften, welche seine Bestandtheile sind, mit einer zureichenden Vollständig- keit erhalten. Und die Arbeiten der Statistik gestatten für den engen Zeitraum und den engen Bezirk von Ländern, innerhalb deren sie zur Anwendung gekommen sind, einen zahlenmäßig fest- gestellten Einblick in die von ihnen umfaßten Thatsachen der Ge- sellschaft: sie ermöglichen, der Kunde des gegenwärtigen Zustandes der Gesellschaft eine exakte Grundlage zu geben. Die Unanschaulichkeit in dem Zusammenhang dieses uner- Natur des Materials der Geiſteswiſſenſchaften. ſcheinlich. Intereſſen, welche dem Bedürfniß der Wiſſenſchaftkeineswegs entſprechen, Bedingungen der Ueberlieferung, welche in keiner Beziehung zu dieſem Bedürfniß ſtehen, haben den Beſtand unſerer geſchichtlichen Kunde beſtimmt. Von der Zeit ab, in welcher, um das Lagerfeuer verſammelt, Stammes- und Kriegs- genoſſen von den Thaten ihrer Helden und dem göttlichen Ur- ſprung ihres Stammes erzählten, hat das ſtarke Intereſſe der Mitlebenden aus dem dunklen Fluſſe des gewöhnlichen menſchlichen Lebens Thatſachen emporgehoben und bewahrt. Das Intereſſe einer ſpäteren Zeit und geſchichtliche Fügung haben darüber ent- ſchieden, was von dieſen Thatſachen auf uns gelangen ſollte. Geſchichtſchreibung, als eine freie Kunſt der Darſtellung, faßt einen einzelnen Theil dieſes unermeßlichen Ganzen zuſammen, der des Intereſſes unter irgend einem Geſichtspunkt werth erſcheint. Dazu kommt: die heutige Geſellſchaft lebt ſozuſagen auf den Schichten und Trümmern der Vergangenheit; die Niederſchläge der Kulturarbeit in Sprache und Aberglaube, in Sitte und Recht, wie andererſeits in materiellen Veränderungen, die über Auf- zeichnungen hinausgehen, enthalten eine Ueberlieferung, welche in unſchätzbarer Weiſe die Aufzeichnungen unterſtützt. Auch über ihre Erhaltung hat doch die Hand der geſchichtlichen Fügung entſchieden. Nur an zwei Punkten beſteht ein den Anforderungen der Wiſſen- ſchaft entſprechender Zuſtand des Materials. Der Verlauf der geiſtigen Bewegungen in dem neueren Europa iſt in den Schriften, welche ſeine Beſtandtheile ſind, mit einer zureichenden Vollſtändig- keit erhalten. Und die Arbeiten der Statiſtik geſtatten für den engen Zeitraum und den engen Bezirk von Ländern, innerhalb deren ſie zur Anwendung gekommen ſind, einen zahlenmäßig feſt- geſtellten Einblick in die von ihnen umfaßten Thatſachen der Ge- ſellſchaft: ſie ermöglichen, der Kunde des gegenwärtigen Zuſtandes der Geſellſchaft eine exakte Grundlage zu geben. Die Unanſchaulichkeit in dem Zuſammenhang dieſes uner- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0054" n="31"/><fw place="top" type="header">Natur des Materials der Geiſteswiſſenſchaften.</fw><lb/> ſcheinlich. Intereſſen, welche dem Bedürfniß der Wiſſenſchaft<lb/> keineswegs entſprechen, Bedingungen der Ueberlieferung, welche<lb/> in keiner Beziehung zu dieſem Bedürfniß ſtehen, haben den Beſtand<lb/> unſerer geſchichtlichen Kunde beſtimmt. 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Natur des Materials der Geiſteswiſſenſchaften.
ſcheinlich. Intereſſen, welche dem Bedürfniß der Wiſſenſchaft
keineswegs entſprechen, Bedingungen der Ueberlieferung, welche
in keiner Beziehung zu dieſem Bedürfniß ſtehen, haben den Beſtand
unſerer geſchichtlichen Kunde beſtimmt. Von der Zeit ab, in
welcher, um das Lagerfeuer verſammelt, Stammes- und Kriegs-
genoſſen von den Thaten ihrer Helden und dem göttlichen Ur-
ſprung ihres Stammes erzählten, hat das ſtarke Intereſſe der
Mitlebenden aus dem dunklen Fluſſe des gewöhnlichen menſchlichen
Lebens Thatſachen emporgehoben und bewahrt. Das Intereſſe
einer ſpäteren Zeit und geſchichtliche Fügung haben darüber ent-
ſchieden, was von dieſen Thatſachen auf uns gelangen ſollte.
Geſchichtſchreibung, als eine freie Kunſt der Darſtellung, faßt
einen einzelnen Theil dieſes unermeßlichen Ganzen zuſammen, der
des Intereſſes unter irgend einem Geſichtspunkt werth erſcheint.
Dazu kommt: die heutige Geſellſchaft lebt ſozuſagen auf den
Schichten und Trümmern der Vergangenheit; die Niederſchläge
der Kulturarbeit in Sprache und Aberglaube, in Sitte und Recht,
wie andererſeits in materiellen Veränderungen, die über Auf-
zeichnungen hinausgehen, enthalten eine Ueberlieferung, welche in
unſchätzbarer Weiſe die Aufzeichnungen unterſtützt. Auch über ihre
Erhaltung hat doch die Hand der geſchichtlichen Fügung entſchieden.
Nur an zwei Punkten beſteht ein den Anforderungen der Wiſſen-
ſchaft entſprechender Zuſtand des Materials. Der Verlauf der
geiſtigen Bewegungen in dem neueren Europa iſt in den Schriften,
welche ſeine Beſtandtheile ſind, mit einer zureichenden Vollſtändig-
keit erhalten. Und die Arbeiten der Statiſtik geſtatten für den
engen Zeitraum und den engen Bezirk von Ländern, innerhalb
deren ſie zur Anwendung gekommen ſind, einen zahlenmäßig feſt-
geſtellten Einblick in die von ihnen umfaßten Thatſachen der Ge-
ſellſchaft: ſie ermöglichen, der Kunde des gegenwärtigen Zuſtandes
der Geſellſchaft eine exakte Grundlage zu geben.
Die Unanſchaulichkeit in dem Zuſammenhang dieſes uner-
meßlichen Materials kommt zu dieſer Lückenhaftigkeit, ja hat nicht
wenig dazu beigetragen, die letztere zu ſteigern. Als der menſch-
liche Geiſt die Wirklichkeit ſeinen Gedanken zu unterwerfen begann,
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