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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
lichen Dinge in ihren Grundzügen abgeschlossen, und eine Vor-
stellung davon, daß die auf Erfahrung gegründete Wissenschaft
bestimmt sei, die Welt umzugestalten, besaß kein Mensch während
des elften Jahrhunderts in Europa; dann aber geschah, was Nie-
mand hatte ahnen können, und die moderne Erfahrungswissenschaft
entstand. So müssen auch wir uns sagen, daß wir nicht wissen,
was hinter den Wänden sich befindet, die uns heute umgeben.
Das Seelenleben selber verändert sich in der Geschichte der Mensch-
heit, nicht nur diese oder jene Vorstellung. Und dieses Bewußt-
sein der Schranken unserer Erkenntniß, wie es aus dem geschicht-
lichen Blick in die Entwicklung des Seelenlebens folgt, ist ein
anderes und tieferes, als das, welches Kant hatte, für den im
Geiste des achtzehnten Jahrhunderts das metaphysische Bewußt-
sein ohne Geschichte war.



Der Skepticismus, welcher die Metaphysik als ihr Schatten
begleitete, hatte den Nachweis erbracht, daß wir in unsere Eindrücke
gleichsam eingeschlossen sind, sonach die Ursache derselben nicht
erkennen und über die reale Beschaffenheit der Außenwelt nichts
aussagen können. Alle Sinnesempfindungen sind relativ und ge-
statten keinen Schluß auf das, was sie hervorbringt. Selbst der
Begriff der Ursache ist eine von uns in die Dinge getragene Re-
lation, für deren Anwendung auf die Außenwelt ein Rechtsgrund
nicht vorliegt. Dazu hat die Geschichte der Metaphysik gezeigt,
daß unter einer Beziehung zwischen dem Denken und den Ob-
jekten nichts Klares gedacht werden kann, mag dieselbe als Iden-
tität oder Parallelismus, als Entsprechen oder Korrespondenz be-
zeichnet werden. Denn eine Vorstellung kann einem Ding, sofern
dieses als von ihr unabhängige Realität aufgefaßt wird, nie gleich
sein. Sie ist nicht das in die Seele geschobene Ding und kann
nicht mit einem Gegenstand zur Deckung gebracht werden. Schwächt
man den Begriff der Gleichheit zu dem der Aehnlichkeit ab, so
kann auch dieser Begriff in seinem genauen Verstande hier nicht

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
lichen Dinge in ihren Grundzügen abgeſchloſſen, und eine Vor-
ſtellung davon, daß die auf Erfahrung gegründete Wiſſenſchaft
beſtimmt ſei, die Welt umzugeſtalten, beſaß kein Menſch während
des elften Jahrhunderts in Europa; dann aber geſchah, was Nie-
mand hatte ahnen können, und die moderne Erfahrungswiſſenſchaft
entſtand. So müſſen auch wir uns ſagen, daß wir nicht wiſſen,
was hinter den Wänden ſich befindet, die uns heute umgeben.
Das Seelenleben ſelber verändert ſich in der Geſchichte der Menſch-
heit, nicht nur dieſe oder jene Vorſtellung. Und dieſes Bewußt-
ſein der Schranken unſerer Erkenntniß, wie es aus dem geſchicht-
lichen Blick in die Entwicklung des Seelenlebens folgt, iſt ein
anderes und tieferes, als das, welches Kant hatte, für den im
Geiſte des achtzehnten Jahrhunderts das metaphyſiſche Bewußt-
ſein ohne Geſchichte war.



Der Skepticismus, welcher die Metaphyſik als ihr Schatten
begleitete, hatte den Nachweis erbracht, daß wir in unſere Eindrücke
gleichſam eingeſchloſſen ſind, ſonach die Urſache derſelben nicht
erkennen und über die reale Beſchaffenheit der Außenwelt nichts
ausſagen können. Alle Sinnesempfindungen ſind relativ und ge-
ſtatten keinen Schluß auf das, was ſie hervorbringt. Selbſt der
Begriff der Urſache iſt eine von uns in die Dinge getragene Re-
lation, für deren Anwendung auf die Außenwelt ein Rechtsgrund
nicht vorliegt. Dazu hat die Geſchichte der Metaphyſik gezeigt,
daß unter einer Beziehung zwiſchen dem Denken und den Ob-
jekten nichts Klares gedacht werden kann, mag dieſelbe als Iden-
tität oder Parallelismus, als Entſprechen oder Korreſpondenz be-
zeichnet werden. Denn eine Vorſtellung kann einem Ding, ſofern
dieſes als von ihr unabhängige Realität aufgefaßt wird, nie gleich
ſein. Sie iſt nicht das in die Seele geſchobene Ding und kann
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man den Begriff der Gleichheit zu dem der Aehnlichkeit ab, ſo
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[518/0541] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. lichen Dinge in ihren Grundzügen abgeſchloſſen, und eine Vor- ſtellung davon, daß die auf Erfahrung gegründete Wiſſenſchaft beſtimmt ſei, die Welt umzugeſtalten, beſaß kein Menſch während des elften Jahrhunderts in Europa; dann aber geſchah, was Nie- mand hatte ahnen können, und die moderne Erfahrungswiſſenſchaft entſtand. So müſſen auch wir uns ſagen, daß wir nicht wiſſen, was hinter den Wänden ſich befindet, die uns heute umgeben. Das Seelenleben ſelber verändert ſich in der Geſchichte der Menſch- heit, nicht nur dieſe oder jene Vorſtellung. Und dieſes Bewußt- ſein der Schranken unſerer Erkenntniß, wie es aus dem geſchicht- lichen Blick in die Entwicklung des Seelenlebens folgt, iſt ein anderes und tieferes, als das, welches Kant hatte, für den im Geiſte des achtzehnten Jahrhunderts das metaphyſiſche Bewußt- ſein ohne Geſchichte war. Der Skepticismus, welcher die Metaphyſik als ihr Schatten begleitete, hatte den Nachweis erbracht, daß wir in unſere Eindrücke gleichſam eingeſchloſſen ſind, ſonach die Urſache derſelben nicht erkennen und über die reale Beſchaffenheit der Außenwelt nichts ausſagen können. Alle Sinnesempfindungen ſind relativ und ge- ſtatten keinen Schluß auf das, was ſie hervorbringt. Selbſt der Begriff der Urſache iſt eine von uns in die Dinge getragene Re- lation, für deren Anwendung auf die Außenwelt ein Rechtsgrund nicht vorliegt. Dazu hat die Geſchichte der Metaphyſik gezeigt, daß unter einer Beziehung zwiſchen dem Denken und den Ob- jekten nichts Klares gedacht werden kann, mag dieſelbe als Iden- tität oder Parallelismus, als Entſprechen oder Korreſpondenz be- zeichnet werden. Denn eine Vorſtellung kann einem Ding, ſofern dieſes als von ihr unabhängige Realität aufgefaßt wird, nie gleich ſein. Sie iſt nicht das in die Seele geſchobene Ding und kann nicht mit einem Gegenſtand zur Deckung gebracht werden. Schwächt man den Begriff der Gleichheit zu dem der Aehnlichkeit ab, ſo kann auch dieſer Begriff in ſeinem genauen Verſtande hier nicht

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/541>, abgerufen am 21.11.2024.