Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Metaphysik und Erkenntnißtheorie. der Natur ergreift; er verläßt die Geliebte, durchwandert vieleLänder, um die große Göttin Isis zu finden und ihr wunderbares Antlitz zu schauen. Endlich steht er vor der Göttin der Natur, er hebt den leichten glänzenden Schleier und -- die Geliebte sinkt in seine Arme. Wenn der Seele zu gelingen scheint, das Subjekt des Naturlaufs selber ledig der Hüllen und des Schleiers zu ge- wahren, dann findet sie in diesem -- sich selbst. Dies ist in der That das letzte Wort aller Metaphysik, und man kann sagen, nach- dem dasselbe in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen bald des Verstandes, bald der Leidenschaft, bald des tiefsten Gemüthes ausgesprochen ist, scheint es, daß die Metaphysik auch in dieser Rücksicht nichts Erhebliches mehr zu sagen habe. Wir folgern weiter mit Hilfe des zweiten Satzes. Dieser Der Grieche in der Zeit des Plato oder Aristoteles war an Metaphyſik und Erkenntnißtheorie. der Natur ergreift; er verläßt die Geliebte, durchwandert vieleLänder, um die große Göttin Iſis zu finden und ihr wunderbares Antlitz zu ſchauen. Endlich ſteht er vor der Göttin der Natur, er hebt den leichten glänzenden Schleier und — die Geliebte ſinkt in ſeine Arme. Wenn der Seele zu gelingen ſcheint, das Subjekt des Naturlaufs ſelber ledig der Hüllen und des Schleiers zu ge- wahren, dann findet ſie in dieſem — ſich ſelbſt. Dies iſt in der That das letzte Wort aller Metaphyſik, und man kann ſagen, nach- dem daſſelbe in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen bald des Verſtandes, bald der Leidenſchaft, bald des tiefſten Gemüthes ausgeſprochen iſt, ſcheint es, daß die Metaphyſik auch in dieſer Rückſicht nichts Erhebliches mehr zu ſagen habe. Wir folgern weiter mit Hilfe des zweiten Satzes. Dieſer Der Grieche in der Zeit des Plato oder Ariſtoteles war an <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0540" n="517"/><fw place="top" type="header">Metaphyſik und Erkenntnißtheorie.</fw><lb/> der Natur ergreift; er verläßt die Geliebte, durchwandert viele<lb/> Länder, um die große Göttin Iſis zu finden und ihr wunderbares<lb/> Antlitz zu ſchauen. Endlich ſteht er vor der Göttin der Natur,<lb/> er hebt den leichten glänzenden Schleier und — die Geliebte ſinkt<lb/> in ſeine Arme. Wenn der Seele zu gelingen ſcheint, das Subjekt<lb/> des Naturlaufs ſelber ledig der Hüllen und des Schleiers zu ge-<lb/> wahren, dann findet ſie in dieſem — ſich ſelbſt. Dies iſt in der<lb/> That das letzte Wort aller Metaphyſik, und man kann ſagen, nach-<lb/> dem daſſelbe in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen bald<lb/> des Verſtandes, bald der Leidenſchaft, bald des tiefſten Gemüthes<lb/> ausgeſprochen iſt, ſcheint es, daß die Metaphyſik auch in dieſer<lb/> Rückſicht nichts Erhebliches mehr zu ſagen habe.</p><lb/> <p>Wir folgern weiter mit Hilfe des zweiten Satzes. Dieſer<lb/> perſönliche Gehalt des Seelenlebens iſt nun in einer beſtändigen<lb/> geſchichtlichen Wandlung, unberechenbar, relativ, eingeſchränkt, und<lb/> kann daher nicht eine allgemeingültige Einheit der Erfahrungen er-<lb/> möglichen. Das iſt die tiefſte Einſicht, zu welcher unſere Phäno-<lb/> menologie der Metaphyſik gelangte, im Gegenſatz gegen die Kon-<lb/> ſtruktionen der Epochen der Menſchheit. Jedes metaphyſiſche<lb/> Syſtem iſt nur für die Lage repräſentativ, in welcher eine Seele<lb/> das Welträthſel erblickt hat. Es hat die Gewalt, dieſe Lage und<lb/> Zeit, den Zuſtand der Seele, die Art, wie die Menſchen die Natur<lb/> und ſich erblickten, uns wieder zu vergegenwärtigen. Es thut das<lb/> gründlicher und allſeitiger als dichteriſche Werke, in welchen das<lb/> Gemüthsleben nach ſeinem Geſetz mit Perſonen und Dingen<lb/> ſchaltet. Jedoch mit der geſchichtlichen Lage des Seelenlebens ändert<lb/> ſich der geiſtige Gehalt, welcher einem metaphyſiſchen Syſtem Ein-<lb/> heit und Leben giebt. Wir können dieſe Aenderung weder nach<lb/> ihren Gränzen beſtimmen noch in ihrer Richtung vorausberechnen.</p><lb/> <p>Der Grieche in der Zeit des Plato oder Ariſtoteles war an<lb/> eine beſtimmte Vorſtellungsweiſe der erſten Urſachen gebunden;<lb/> die chriſtliche Weltanſicht entwickelte ſich, und es war nun gleich-<lb/> ſam eine Wand weggezogen, hinter welcher man eine neue Art,<lb/> die erſte Urſache der Welt vorzuſtellen erblickte. Für einen mittel-<lb/> alterlichen Kopf war die Erkenntniß der göttlichen und menſch-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [517/0540]
Metaphyſik und Erkenntnißtheorie.
der Natur ergreift; er verläßt die Geliebte, durchwandert viele
Länder, um die große Göttin Iſis zu finden und ihr wunderbares
Antlitz zu ſchauen. Endlich ſteht er vor der Göttin der Natur,
er hebt den leichten glänzenden Schleier und — die Geliebte ſinkt
in ſeine Arme. Wenn der Seele zu gelingen ſcheint, das Subjekt
des Naturlaufs ſelber ledig der Hüllen und des Schleiers zu ge-
wahren, dann findet ſie in dieſem — ſich ſelbſt. Dies iſt in der
That das letzte Wort aller Metaphyſik, und man kann ſagen, nach-
dem daſſelbe in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen bald
des Verſtandes, bald der Leidenſchaft, bald des tiefſten Gemüthes
ausgeſprochen iſt, ſcheint es, daß die Metaphyſik auch in dieſer
Rückſicht nichts Erhebliches mehr zu ſagen habe.
Wir folgern weiter mit Hilfe des zweiten Satzes. Dieſer
perſönliche Gehalt des Seelenlebens iſt nun in einer beſtändigen
geſchichtlichen Wandlung, unberechenbar, relativ, eingeſchränkt, und
kann daher nicht eine allgemeingültige Einheit der Erfahrungen er-
möglichen. Das iſt die tiefſte Einſicht, zu welcher unſere Phäno-
menologie der Metaphyſik gelangte, im Gegenſatz gegen die Kon-
ſtruktionen der Epochen der Menſchheit. Jedes metaphyſiſche
Syſtem iſt nur für die Lage repräſentativ, in welcher eine Seele
das Welträthſel erblickt hat. Es hat die Gewalt, dieſe Lage und
Zeit, den Zuſtand der Seele, die Art, wie die Menſchen die Natur
und ſich erblickten, uns wieder zu vergegenwärtigen. Es thut das
gründlicher und allſeitiger als dichteriſche Werke, in welchen das
Gemüthsleben nach ſeinem Geſetz mit Perſonen und Dingen
ſchaltet. Jedoch mit der geſchichtlichen Lage des Seelenlebens ändert
ſich der geiſtige Gehalt, welcher einem metaphyſiſchen Syſtem Ein-
heit und Leben giebt. Wir können dieſe Aenderung weder nach
ihren Gränzen beſtimmen noch in ihrer Richtung vorausberechnen.
Der Grieche in der Zeit des Plato oder Ariſtoteles war an
eine beſtimmte Vorſtellungsweiſe der erſten Urſachen gebunden;
die chriſtliche Weltanſicht entwickelte ſich, und es war nun gleich-
ſam eine Wand weggezogen, hinter welcher man eine neue Art,
die erſte Urſache der Welt vorzuſtellen erblickte. Für einen mittel-
alterlichen Kopf war die Erkenntniß der göttlichen und menſch-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDarüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr] Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |