Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Biographie.
keiten an Thatsachen feststellt, dagegen die erklärende Psychologie,
welche den ganzen Zusammenhang des geistigen Lebens durch
gewisse Annahmen ableitbar machen will, von sich reinlich unter-
scheidet. Nur durch dieses Verfahren kann für die letztere ein ge-
naues, unbefangen festgestelltes Material gewonnen werden, welches
eine Verification der psychologischen Hypothesen gestattet. Vor
Allem aber: nur so können endlich die Einzelwissenschaften des
Geistes eine Grundlegung erhalten, die selber fest ist, während
jetzt auch die besten Darstellungen der Psychologie Hypothesen auf
Hypothesen bauen.

Wir ziehen das Ergebniß für den Zusammenhang dieser
Darlegung. Der einfachste Befund, welchen die Analysis der
gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit abzugewinnen vermag, liegt
in der Psychologie vor; sie ist demnach die erste und elementarste
unter den Einzelwissenschaften des Geistes; dem entsprechend bilden
ihre Wahrheiten die Grundlage des weiteren Aufbaues. Aber ihre
Wahrheiten enthalten nur einen aus dieser Wirklichkeit ausgelösten
Theilinhalt und haben daher die Beziehung auf diese zur Voraus-
setzung. Demnach kann nur vermittelst einer erkenntniß-theoretischen
Grundlegung die Beziehung der psychologischen Wissenschaft zu
den anderen Wissenschaften des Geistes und zu der Wirklichkeit selber,
deren Theilinhalte sie sind, aufgeklärt werden. Für die Psycho-
logie selber aber ergiebt sich aus ihrer Stellung im Zusammen-
hang der Geisteswissenschaften, daß sie als descriptive Wissenschaft
(ein in der Grundlegung näher zu entwickelnder Begriff) sich
unterscheiden muß von der erklärenden Wissenschaft, welche, ihrer
Natur nach hypothetisch, einfachen Annahmen die Thatsachen des
geistigen Lebens zu unterwerfen unternimmt.

Die Darstellung der einzelnen psycho-physischen Lebenseinheit
ist die Biographie. Das Gedächtniß der Menschheit hat sehr
viele Individualexistenzen des Interesses und der Aufbewahrung
würdig befunden. Carlyle sagt einmal von der Geschichte: "weises
Erinnern und weises Vergessen, darin liegt Alles". Das Singulare
des Menschendaseins ergreift eben, nach der Gewalt, mit der das
Individuum die Anschauung und die Liebe anderer Individuen

Die Biographie.
keiten an Thatſachen feſtſtellt, dagegen die erklärende Pſychologie,
welche den ganzen Zuſammenhang des geiſtigen Lebens durch
gewiſſe Annahmen ableitbar machen will, von ſich reinlich unter-
ſcheidet. Nur durch dieſes Verfahren kann für die letztere ein ge-
naues, unbefangen feſtgeſtelltes Material gewonnen werden, welches
eine Verification der pſychologiſchen Hypotheſen geſtattet. Vor
Allem aber: nur ſo können endlich die Einzelwiſſenſchaften des
Geiſtes eine Grundlegung erhalten, die ſelber feſt iſt, während
jetzt auch die beſten Darſtellungen der Pſychologie Hypotheſen auf
Hypotheſen bauen.

Wir ziehen das Ergebniß für den Zuſammenhang dieſer
Darlegung. Der einfachſte Befund, welchen die Analyſis der
geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit abzugewinnen vermag, liegt
in der Pſychologie vor; ſie iſt demnach die erſte und elementarſte
unter den Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes; dem entſprechend bilden
ihre Wahrheiten die Grundlage des weiteren Aufbaues. Aber ihre
Wahrheiten enthalten nur einen aus dieſer Wirklichkeit ausgelöſten
Theilinhalt und haben daher die Beziehung auf dieſe zur Voraus-
ſetzung. Demnach kann nur vermittelſt einer erkenntniß-theoretiſchen
Grundlegung die Beziehung der pſychologiſchen Wiſſenſchaft zu
den anderen Wiſſenſchaften des Geiſtes und zu der Wirklichkeit ſelber,
deren Theilinhalte ſie ſind, aufgeklärt werden. Für die Pſycho-
logie ſelber aber ergiebt ſich aus ihrer Stellung im Zuſammen-
hang der Geiſteswiſſenſchaften, daß ſie als deſcriptive Wiſſenſchaft
(ein in der Grundlegung näher zu entwickelnder Begriff) ſich
unterſcheiden muß von der erklärenden Wiſſenſchaft, welche, ihrer
Natur nach hypothetiſch, einfachen Annahmen die Thatſachen des
geiſtigen Lebens zu unterwerfen unternimmt.

Die Darſtellung der einzelnen pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit
iſt die Biographie. Das Gedächtniß der Menſchheit hat ſehr
viele Individualexiſtenzen des Intereſſes und der Aufbewahrung
würdig befunden. Carlyle ſagt einmal von der Geſchichte: „weiſes
Erinnern und weiſes Vergeſſen, darin liegt Alles“. Das Singulare
des Menſchendaſeins ergreift eben, nach der Gewalt, mit der das
Individuum die Anſchauung und die Liebe anderer Individuen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0064" n="41"/><fw place="top" type="header">Die Biographie.</fw><lb/>
keiten an That&#x017F;achen fe&#x017F;t&#x017F;tellt, dagegen die erklärende P&#x017F;ychologie,<lb/>
welche den ganzen Zu&#x017F;ammenhang des gei&#x017F;tigen Lebens durch<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Annahmen ableitbar machen will, von &#x017F;ich reinlich unter-<lb/>
&#x017F;cheidet. Nur durch die&#x017F;es Verfahren kann für die letztere ein ge-<lb/>
naues, unbefangen fe&#x017F;tge&#x017F;telltes Material gewonnen werden, welches<lb/>
eine Verification der p&#x017F;ychologi&#x017F;chen Hypothe&#x017F;en ge&#x017F;tattet. Vor<lb/>
Allem aber: nur &#x017F;o können endlich die Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften des<lb/>
Gei&#x017F;tes eine Grundlegung erhalten, die &#x017F;elber fe&#x017F;t i&#x017F;t, während<lb/>
jetzt auch die be&#x017F;ten Dar&#x017F;tellungen der P&#x017F;ychologie Hypothe&#x017F;en auf<lb/>
Hypothe&#x017F;en bauen.</p><lb/>
          <p>Wir ziehen das Ergebniß für den Zu&#x017F;ammenhang die&#x017F;er<lb/>
Darlegung. Der einfach&#x017F;te Befund, welchen die Analy&#x017F;is der<lb/>
ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlich-ge&#x017F;chichtlichen Wirklichkeit abzugewinnen vermag, liegt<lb/>
in der P&#x017F;ychologie vor; &#x017F;ie i&#x017F;t demnach die er&#x017F;te und elementar&#x017F;te<lb/>
unter den Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften des Gei&#x017F;tes; dem ent&#x017F;prechend bilden<lb/>
ihre Wahrheiten die Grundlage des weiteren Aufbaues. Aber ihre<lb/>
Wahrheiten enthalten nur einen aus die&#x017F;er Wirklichkeit ausgelö&#x017F;ten<lb/>
Theilinhalt und haben daher die Beziehung auf die&#x017F;e zur Voraus-<lb/>
&#x017F;etzung. Demnach kann nur vermittel&#x017F;t einer erkenntniß-theoreti&#x017F;chen<lb/>
Grundlegung die Beziehung der p&#x017F;ychologi&#x017F;chen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft zu<lb/>
den anderen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften des Gei&#x017F;tes und zu der Wirklichkeit &#x017F;elber,<lb/>
deren Theilinhalte &#x017F;ie &#x017F;ind, aufgeklärt werden. Für die P&#x017F;ycho-<lb/>
logie &#x017F;elber aber ergiebt &#x017F;ich aus ihrer Stellung im Zu&#x017F;ammen-<lb/>
hang der Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, daß &#x017F;ie als de&#x017F;criptive Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
(ein in der Grundlegung näher zu entwickelnder Begriff) &#x017F;ich<lb/>
unter&#x017F;cheiden muß von der erklärenden Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, welche, ihrer<lb/>
Natur nach hypotheti&#x017F;ch, einfachen Annahmen die That&#x017F;achen des<lb/>
gei&#x017F;tigen Lebens zu unterwerfen unternimmt.</p><lb/>
          <p>Die Dar&#x017F;tellung der einzelnen p&#x017F;ycho-phy&#x017F;i&#x017F;chen Lebenseinheit<lb/>
i&#x017F;t die Biographie. Das Gedächtniß der Men&#x017F;chheit hat &#x017F;ehr<lb/>
viele Individualexi&#x017F;tenzen des Intere&#x017F;&#x017F;es und der Aufbewahrung<lb/>
würdig befunden. Carlyle &#x017F;agt einmal von der Ge&#x017F;chichte: &#x201E;wei&#x017F;es<lb/>
Erinnern und wei&#x017F;es Verge&#x017F;&#x017F;en, darin liegt Alles&#x201C;. Das Singulare<lb/>
des Men&#x017F;chenda&#x017F;eins ergreift eben, nach der Gewalt, mit der das<lb/>
Individuum die An&#x017F;chauung und die Liebe anderer Individuen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0064] Die Biographie. keiten an Thatſachen feſtſtellt, dagegen die erklärende Pſychologie, welche den ganzen Zuſammenhang des geiſtigen Lebens durch gewiſſe Annahmen ableitbar machen will, von ſich reinlich unter- ſcheidet. Nur durch dieſes Verfahren kann für die letztere ein ge- naues, unbefangen feſtgeſtelltes Material gewonnen werden, welches eine Verification der pſychologiſchen Hypotheſen geſtattet. Vor Allem aber: nur ſo können endlich die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes eine Grundlegung erhalten, die ſelber feſt iſt, während jetzt auch die beſten Darſtellungen der Pſychologie Hypotheſen auf Hypotheſen bauen. Wir ziehen das Ergebniß für den Zuſammenhang dieſer Darlegung. Der einfachſte Befund, welchen die Analyſis der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit abzugewinnen vermag, liegt in der Pſychologie vor; ſie iſt demnach die erſte und elementarſte unter den Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes; dem entſprechend bilden ihre Wahrheiten die Grundlage des weiteren Aufbaues. Aber ihre Wahrheiten enthalten nur einen aus dieſer Wirklichkeit ausgelöſten Theilinhalt und haben daher die Beziehung auf dieſe zur Voraus- ſetzung. Demnach kann nur vermittelſt einer erkenntniß-theoretiſchen Grundlegung die Beziehung der pſychologiſchen Wiſſenſchaft zu den anderen Wiſſenſchaften des Geiſtes und zu der Wirklichkeit ſelber, deren Theilinhalte ſie ſind, aufgeklärt werden. Für die Pſycho- logie ſelber aber ergiebt ſich aus ihrer Stellung im Zuſammen- hang der Geiſteswiſſenſchaften, daß ſie als deſcriptive Wiſſenſchaft (ein in der Grundlegung näher zu entwickelnder Begriff) ſich unterſcheiden muß von der erklärenden Wiſſenſchaft, welche, ihrer Natur nach hypothetiſch, einfachen Annahmen die Thatſachen des geiſtigen Lebens zu unterwerfen unternimmt. Die Darſtellung der einzelnen pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit iſt die Biographie. Das Gedächtniß der Menſchheit hat ſehr viele Individualexiſtenzen des Intereſſes und der Aufbewahrung würdig befunden. Carlyle ſagt einmal von der Geſchichte: „weiſes Erinnern und weiſes Vergeſſen, darin liegt Alles“. Das Singulare des Menſchendaſeins ergreift eben, nach der Gewalt, mit der das Individuum die Anſchauung und die Liebe anderer Individuen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/64
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/64>, abgerufen am 23.11.2024.