Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Erstes einleitendes Buch. zu sich hinreißt, stärker als irgend ein anderes Object oder irgendeine Generalisation. Die Stellung der Biographie innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft entspricht der Stellung der An- thropologie innerhalb der theoretischen Wissenschaften der geschichtlich- gesellschaftlichen Wirklichkeit. Daher wird der Fortschritt der Anthropologie und die wachsende Erkenntniß ihrer grundlegenden Stellung auch die Einsicht vermitteln, daß die Erfassung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaseins, seine Naturbeschreibung in seinem geschichtlichen milieu, ein Höchstes von Geschichtschreibung ist, gleichwerthig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geschichtlichen Darstellung, die aus breiterem Stoff gestaltet. Der Wille eines Menschen, in seinem Verlauf und seinem Schicksal, wird hier in seiner Würde als Selbstzweck erfaßt, und der Biograph soll den Menschen sub specie aeterni erblicken, wie er selbst sich in Momenten fühlt, in welchen zwischen ihm und der Gottheit Alles Hülle, Gewand und Mittel ist und er sich dem Sternen- himmel so nahe fühlt, als irgend einem Theil der Erde. Die Biographie stellt so die fundamentale geschichtliche Thatsache rein, ganz, in ihrer Wirklichkeit dar. Und nur der Historiker, der so- zusagen von diesen Lebenseinheiten aus die Geschichte aufbaut, der durch den Begriff von Typus und Repräsentation sich der Auf- fassung von Ständen, von gesellschaftlichen Verbänden über- haupt, von Zeitaltern zu nähern sucht, der durch den Begriff von Generationen Lebensläufe aneinander kettet, wird die Wirklichkeit eines geschichtlichen Ganzen erfassen, im Gegensatz zu den todten Abstraktionen, die zumeist aus den Archiven entnommen werden. Ist die Biographie ein wichtiges Hilfsmittel für die weitere Regeln persönlicher Lebensführung haben zu allen Zeiten Erſtes einleitendes Buch. zu ſich hinreißt, ſtärker als irgend ein anderes Object oder irgendeine Generaliſation. Die Stellung der Biographie innerhalb der allgemeinen Geſchichtswiſſenſchaft entſpricht der Stellung der An- thropologie innerhalb der theoretiſchen Wiſſenſchaften der geſchichtlich- geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Daher wird der Fortſchritt der Anthropologie und die wachſende Erkenntniß ihrer grundlegenden Stellung auch die Einſicht vermitteln, daß die Erfaſſung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaſeins, ſeine Naturbeſchreibung in ſeinem geſchichtlichen milieu, ein Höchſtes von Geſchichtſchreibung iſt, gleichwerthig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geſchichtlichen Darſtellung, die aus breiterem Stoff geſtaltet. Der Wille eines Menſchen, in ſeinem Verlauf und ſeinem Schickſal, wird hier in ſeiner Würde als Selbſtzweck erfaßt, und der Biograph ſoll den Menſchen sub specie aeterni erblicken, wie er ſelbſt ſich in Momenten fühlt, in welchen zwiſchen ihm und der Gottheit Alles Hülle, Gewand und Mittel iſt und er ſich dem Sternen- himmel ſo nahe fühlt, als irgend einem Theil der Erde. Die Biographie ſtellt ſo die fundamentale geſchichtliche Thatſache rein, ganz, in ihrer Wirklichkeit dar. Und nur der Hiſtoriker, der ſo- zuſagen von dieſen Lebenseinheiten aus die Geſchichte aufbaut, der durch den Begriff von Typus und Repräſentation ſich der Auf- faſſung von Ständen, von geſellſchaftlichen Verbänden über- haupt, von Zeitaltern zu nähern ſucht, der durch den Begriff von Generationen Lebensläufe aneinander kettet, wird die Wirklichkeit eines geſchichtlichen Ganzen erfaſſen, im Gegenſatz zu den todten Abſtraktionen, die zumeiſt aus den Archiven entnommen werden. 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Erſtes einleitendes Buch.
zu ſich hinreißt, ſtärker als irgend ein anderes Object oder irgend
eine Generaliſation. Die Stellung der Biographie innerhalb der
allgemeinen Geſchichtswiſſenſchaft entſpricht der Stellung der An-
thropologie innerhalb der theoretiſchen Wiſſenſchaften der geſchichtlich-
geſellſchaftlichen Wirklichkeit. Daher wird der Fortſchritt der
Anthropologie und die wachſende Erkenntniß ihrer grundlegenden
Stellung auch die Einſicht vermitteln, daß die Erfaſſung der ganzen
Wirklichkeit eines Individualdaſeins, ſeine Naturbeſchreibung in
ſeinem geſchichtlichen milieu, ein Höchſtes von Geſchichtſchreibung
iſt, gleichwerthig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geſchichtlichen
Darſtellung, die aus breiterem Stoff geſtaltet. Der Wille eines
Menſchen, in ſeinem Verlauf und ſeinem Schickſal, wird hier
in ſeiner Würde als Selbſtzweck erfaßt, und der Biograph
ſoll den Menſchen sub specie aeterni erblicken, wie er ſelbſt ſich
in Momenten fühlt, in welchen zwiſchen ihm und der Gottheit
Alles Hülle, Gewand und Mittel iſt und er ſich dem Sternen-
himmel ſo nahe fühlt, als irgend einem Theil der Erde. Die
Biographie ſtellt ſo die fundamentale geſchichtliche Thatſache rein,
ganz, in ihrer Wirklichkeit dar. Und nur der Hiſtoriker, der ſo-
zuſagen von dieſen Lebenseinheiten aus die Geſchichte aufbaut, der
durch den Begriff von Typus und Repräſentation ſich der Auf-
faſſung von Ständen, von geſellſchaftlichen Verbänden über-
haupt, von Zeitaltern zu nähern ſucht, der durch den Begriff von
Generationen Lebensläufe aneinander kettet, wird die Wirklichkeit
eines geſchichtlichen Ganzen erfaſſen, im Gegenſatz zu den todten
Abſtraktionen, die zumeiſt aus den Archiven entnommen werden.
Iſt die Biographie ein wichtiges Hilfsmittel für die weitere
Entwicklung einer wahren Realpſychologie, ſo hat ſie andrerſeits in
dem dermaligen Zuſtande dieſer Wiſſenſchaft ihre Grundlage. Man
kann das wahre Verfahren des Biographen als Anwendung der
Wiſſenſchaft der Anthropologie und Pſychologie auf das Problem,
eine Lebenseinheit, ihre Entwicklung und ihr Schickſal lebendig und
verſtändlich zu machen, bezeichnen.
Regeln perſönlicher Lebensführung haben zu allen Zeiten
einen weiteren Zweig der Literatur gebildet; einige der ſchönſten
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