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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
Operationen die schwierige Frage zu lösen glaubt, hat ihre Un-
fruchtbarkeit nirgend deutlicher als in den weitläufigen Debatten
über diesen Punkt dargethan. Die methodologischen Voraussetzungen
dieser Debatten sind irrig. Die Frage ist nicht, wie diese Forscher
sie stellen, ob solche Wissenschaften einer deduktiven Entwickelung
fähig seien, welche dann einer induktiven Verifikation und An-
passung an die complexen Verhältnisse des thatsächlichen Lebens
unterliege, oder ob sie induktiv zu entwickeln und dann durch eine
Deduktion aus der menschlichen Natur zu bestätigen seien. Diese
Fragestellung selber ist in der Uebertragung eines abstrakten
Schema's aus den Naturwissenschaften gegründet. Nur das
Studium der Arbeit des Erkennens, welche unter den Bedingungen
der besonderen Aufgabe der Geisteswissenschaften steht, kann das
Problem des hier bestehenden Zusammenhangs auflösen.

Man könnte sich nun vorstellen, es gebe Wesen, deren Wechsel-
wirkung nur in einem solchen Ineinandergreifen psychischer Akte
in Einem oder einer Mehrheit von Systemen verliefe. Man
dächte sich dann alle Wirkungen solcher Wesen als fähig in einen
solchen Zweckzusammenhang einzugreifen und schränkte ihr ganzes
Verhältniß zu einander auf diese Fähigkeit ihre Zweckthätigkeit einem
oder mehreren solcher Zusammenhänge anzupassen ein. Ob gleich
ein jedes dieser Wesen sein Thun dem der vor oder neben ihm
befindlichen anpasste, um es zweckmäßig einzurichten, verbliebe jedes
derselben für sich, nur die Intelligenz stiftete zwischen ihnen einen
Zusammenhang, sie rechneten auf einander, aber kein lebendiges
Gefühl von Gemeinschaft bestünde zwischen ihnen; sie vollzögen so
pünktlich und vollständig, gleich bewußten Atomen, die Aufgaben
ihrer Zweckzusammenhänge, daß kein Zwang und kein Verband
zwischen ihnen nothwendig wäre.

Der Mensch ist nicht ein Wesen solcher Art. Es bestehen
andere Eigenschaften seiner Natur, welche in der Wechselwirkung
dieser psychischen Atome zu den dargelegten noch andere constante
Beziehungen hinzufügen, deren am meisten in's Auge fallenden
von uns als Staat bezeichnet werden. Es besteht in Folge hiervon
eine andere theoretische Betrachtung des gesellschaftlichen Lebens,

Erſtes einleitendes Buch.
Operationen die ſchwierige Frage zu löſen glaubt, hat ihre Un-
fruchtbarkeit nirgend deutlicher als in den weitläufigen Debatten
über dieſen Punkt dargethan. Die methodologiſchen Vorausſetzungen
dieſer Debatten ſind irrig. Die Frage iſt nicht, wie dieſe Forſcher
ſie ſtellen, ob ſolche Wiſſenſchaften einer deduktiven Entwickelung
fähig ſeien, welche dann einer induktiven Verifikation und An-
paſſung an die complexen Verhältniſſe des thatſächlichen Lebens
unterliege, oder ob ſie induktiv zu entwickeln und dann durch eine
Deduktion aus der menſchlichen Natur zu beſtätigen ſeien. Dieſe
Frageſtellung ſelber iſt in der Uebertragung eines abſtrakten
Schema’s aus den Naturwiſſenſchaften gegründet. Nur das
Studium der Arbeit des Erkennens, welche unter den Bedingungen
der beſonderen Aufgabe der Geiſteswiſſenſchaften ſteht, kann das
Problem des hier beſtehenden Zuſammenhangs auflöſen.

Man könnte ſich nun vorſtellen, es gebe Weſen, deren Wechſel-
wirkung nur in einem ſolchen Ineinandergreifen pſychiſcher Akte
in Einem oder einer Mehrheit von Syſtemen verliefe. Man
dächte ſich dann alle Wirkungen ſolcher Weſen als fähig in einen
ſolchen Zweckzuſammenhang einzugreifen und ſchränkte ihr ganzes
Verhältniß zu einander auf dieſe Fähigkeit ihre Zweckthätigkeit einem
oder mehreren ſolcher Zuſammenhänge anzupaſſen ein. Ob gleich
ein jedes dieſer Weſen ſein Thun dem der vor oder neben ihm
befindlichen anpaſſte, um es zweckmäßig einzurichten, verbliebe jedes
derſelben für ſich, nur die Intelligenz ſtiftete zwiſchen ihnen einen
Zuſammenhang, ſie rechneten auf einander, aber kein lebendiges
Gefühl von Gemeinſchaft beſtünde zwiſchen ihnen; ſie vollzögen ſo
pünktlich und vollſtändig, gleich bewußten Atomen, die Aufgaben
ihrer Zweckzuſammenhänge, daß kein Zwang und kein Verband
zwiſchen ihnen nothwendig wäre.

Der Menſch iſt nicht ein Weſen ſolcher Art. Es beſtehen
andere Eigenſchaften ſeiner Natur, welche in der Wechſelwirkung
dieſer pſychiſchen Atome zu den dargelegten noch andere conſtante
Beziehungen hinzufügen, deren am meiſten in’s Auge fallenden
von uns als Staat bezeichnet werden. Es beſteht in Folge hiervon
eine andere theoretiſche Betrachtung des geſellſchaftlichen Lebens,

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[58/0081] Erſtes einleitendes Buch. Operationen die ſchwierige Frage zu löſen glaubt, hat ihre Un- fruchtbarkeit nirgend deutlicher als in den weitläufigen Debatten über dieſen Punkt dargethan. Die methodologiſchen Vorausſetzungen dieſer Debatten ſind irrig. Die Frage iſt nicht, wie dieſe Forſcher ſie ſtellen, ob ſolche Wiſſenſchaften einer deduktiven Entwickelung fähig ſeien, welche dann einer induktiven Verifikation und An- paſſung an die complexen Verhältniſſe des thatſächlichen Lebens unterliege, oder ob ſie induktiv zu entwickeln und dann durch eine Deduktion aus der menſchlichen Natur zu beſtätigen ſeien. Dieſe Frageſtellung ſelber iſt in der Uebertragung eines abſtrakten Schema’s aus den Naturwiſſenſchaften gegründet. Nur das Studium der Arbeit des Erkennens, welche unter den Bedingungen der beſonderen Aufgabe der Geiſteswiſſenſchaften ſteht, kann das Problem des hier beſtehenden Zuſammenhangs auflöſen. Man könnte ſich nun vorſtellen, es gebe Weſen, deren Wechſel- wirkung nur in einem ſolchen Ineinandergreifen pſychiſcher Akte in Einem oder einer Mehrheit von Syſtemen verliefe. Man dächte ſich dann alle Wirkungen ſolcher Weſen als fähig in einen ſolchen Zweckzuſammenhang einzugreifen und ſchränkte ihr ganzes Verhältniß zu einander auf dieſe Fähigkeit ihre Zweckthätigkeit einem oder mehreren ſolcher Zuſammenhänge anzupaſſen ein. Ob gleich ein jedes dieſer Weſen ſein Thun dem der vor oder neben ihm befindlichen anpaſſte, um es zweckmäßig einzurichten, verbliebe jedes derſelben für ſich, nur die Intelligenz ſtiftete zwiſchen ihnen einen Zuſammenhang, ſie rechneten auf einander, aber kein lebendiges Gefühl von Gemeinſchaft beſtünde zwiſchen ihnen; ſie vollzögen ſo pünktlich und vollſtändig, gleich bewußten Atomen, die Aufgaben ihrer Zweckzuſammenhänge, daß kein Zwang und kein Verband zwiſchen ihnen nothwendig wäre. Der Menſch iſt nicht ein Weſen ſolcher Art. Es beſtehen andere Eigenſchaften ſeiner Natur, welche in der Wechſelwirkung dieſer pſychiſchen Atome zu den dargelegten noch andere conſtante Beziehungen hinzufügen, deren am meiſten in’s Auge fallenden von uns als Staat bezeichnet werden. Es beſteht in Folge hiervon eine andere theoretiſche Betrachtung des geſellſchaftlichen Lebens,

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/81>, abgerufen am 24.11.2024.