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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

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Drang ist den Naturvölkern so gut eigen als dem heutigen Europäer. pdi_420.003
In ihm haben die Arbeit des Dichters, des Geschichtschreibers pdi_420.004
und Biographen sowie der Genuss seiner Hörer und pdi_420.005
Leser ihre elementare Grundlage. Und wie an das Grosse in pdi_420.006
unsrer Natur auch das Fehlerhafte sich hängt: selbst die verderbliche pdi_420.007
Herrschaft der Romanlectüre beruht darauf. Wie in pdi_420.008
Hauffs Parodie der Verehrer Claurens bei trocknem Brode die pdi_420.009
Beschreibung von Champagnerfrühstücken liest: so würzen sich pdi_420.010
Viele die dürftige Suppe ihres Lebens durch die grossen Emotionen, pdi_420.011
welche mit geringem Aufwand aus der Leihbibliothek pdi_420.012
zu beziehen sind. Das Grausenhafte selbst wird rohen Naturen pdi_420.013
eine Quelle der Lust durch einen hässlichen Zug der Menschennatur, pdi_420.014
gegenüber von Gefahr und Schmerz Andrer die eigne pdi_420.015
Sicherheit hinter dem warmen Ofen verstärkt, verdoppelt zu pdi_420.016
fühlen. In diesem Allen liegt zugleich etwas Irrationales, das pdi_420.017
nicht aus unserem Wesen wegraisonnirt werden kann. Wir sind pdi_420.018
nun einmal kein Apparat, der regelmässig Lust herzustellen und pdi_420.019
Unlust auszuschalten sucht, Lustwerthe gegen einander abwägt pdi_420.020
und so die Willensantriebe der erreichbaren Lustsumme entgegenlenkt. pdi_420.021
Für einen solchen würde freilich das Leben rational, ja pdi_420.022
ein Rechenexempel. Aber das ist es nicht. Ja die Irrationalität pdi_420.023
des menschlichen Charakters kann an jedem heroischen Menschen, pdi_420.024
in jeder wahren Tragödie, an Verbrechern ohne Zahl gesehen werden. pdi_420.025
Die tägliche Erfahrung selber zeigt uns dieselbe; wir suchen pdi_420.026
nicht die Unlust zu vermeiden, sondern vertiefen uns in sie, pdi_420.027
grübelnd, misanthropisch; wir setzen Glück, Gesundheit und pdi_420.028
Leben daran, Affecte der Abneigung zu befriedigen, unangesehen pdi_420.029
den Lustertrag, von dunklen Trieben gezwungen. Und dieses pdi_420.030
Bedürfniss der Menschennatur nach mächtigen, wenn auch mit pdi_420.031
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Apparat für Erzeugung eines Maximums von Lust zurückgeführt pdi_420.033
werden kann, wirkt auch in der Zusammensetzung eines mächtigen pdi_420.034
poetischen Eindrucks. In dieser muss dann die schmerzliche pdi_420.035
Erregung durch die Erweiterung der Seele, welche die Grösse pdi_420.036
des leidenden Menschen hervorruft, überboten und ein befriedigender

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/122>, abgerufen am 23.11.2024.