Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_446.001
Aufgabe lösen müssen, die Zusammensetzung dieser poetischen pdi_446.002
Stimmungen, dann deren Beziehungen zu einander und besonders pdi_446.003
ihre Wirkung auf den Stoff nach den dargestellten Gesetzen zu pdi_446.004
untersuchen. Bei dieser nüchternen Arbeit begegnen sie der pdi_446.005
Dialektik von Hegel, Solger, Weisse etc., die natürlich in diesen pdi_446.006
nachgiebigen, elastischen Thatsachen den ergiebigsten Stoff pdi_446.007
fand. Bezeichnet die Kategorie des Schönen den Zustand, in pdi_446.008
welchem das Object in völliger Angemessenheit an das auffassende pdi_446.009
Seelenleben, ohne Störung und Unlustgefühl, die pdi_446.010
Seele erfüllt und gänzlich befriedigt, so schliessen sich nach der pdi_446.011
einen Seite Gefühlsaggregate an, welche durch die überragende pdi_446.012
Grösse des Gegenstandes ihr Gepräge erhalten, während in den pdi_446.013
Seelenzuständen der anderen Seite das Subject sich über dem pdi_446.014
Gegenstande fühlt. In beiden Hälften der Linie, deren Mitte pdi_446.015
das Idealschöne bildet, entsteht schon hieraus eine Beimischung pdi_446.016
von Unlust, und aus deren Auflösung ein eigenthümlich pdi_446.017
Angenehmes. In dem einen Fall ist für das Gefühl etwas pdi_446.018
Uebergrosses in der Bedeutung des Objectes zu überwinden, pdi_446.019
im andern Falle etwas Geringes.

pdi_446.020

Die Stimmung, in welcher ein Object erhaben erscheint, pdi_446.021
enthält, wie Burke unwidersprechlich erwiesen hat, irgend etwas pdi_446.022
von Furcht, Schrecken, Staunen in sich. Sie ist daher stets pdi_446.023
mit einer Unlusterregung gemischt. Indem sie aber das Seelenleben pdi_446.024
gleichsam zur Grösse des Objectes erweitert, mag diese pdi_446.025
Grösse in dem räumlich Unermesslichen oder in dem physisch pdi_446.026
Uebermächtigen oder dem Willens- und Geistesmächtigen bestehen: pdi_446.027
entspringt eine anhaltende starke Erregung: das eigenthümlich pdi_446.028
angenehme Gefühl tritt auf, das wir als Erhebung bezeichnen. pdi_446.029
In dem Tragischen ist die Zusammensetzung der Gefühle pdi_446.030
eine noch grössere. Denn das Unglück des Helden fügt der pdi_446.031
Furcht, welche sein heldenhafter Charakter, zugleich aber auch pdi_446.032
das Schicksal als Gegenspieler hervorrufen, das Mitleid bei. "Das pdi_446.033
grosse gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn pdi_446.034
es den Menschen zermalmt." So entsteht eine Steigerung derjenigen pdi_446.035
Erregung, die im Erhabenen liegt. Das Tragische nimmt pdi_446.036
eine bevorzugte Stellung ein. Denn es verbindet eine ergreifende

pdi_446.001
Aufgabe lösen müssen, die Zusammensetzung dieser poetischen pdi_446.002
Stimmungen, dann deren Beziehungen zu einander und besonders pdi_446.003
ihre Wirkung auf den Stoff nach den dargestellten Gesetzen zu pdi_446.004
untersuchen. Bei dieser nüchternen Arbeit begegnen sie der pdi_446.005
Dialektik von Hegel, Solger, Weisse etc., die natürlich in diesen pdi_446.006
nachgiebigen, elastischen Thatsachen den ergiebigsten Stoff pdi_446.007
fand. Bezeichnet die Kategorie des Schönen den Zustand, in pdi_446.008
welchem das Object in völliger Angemessenheit an das auffassende pdi_446.009
Seelenleben, ohne Störung und Unlustgefühl, die pdi_446.010
Seele erfüllt und gänzlich befriedigt, so schliessen sich nach der pdi_446.011
einen Seite Gefühlsaggregate an, welche durch die überragende pdi_446.012
Grösse des Gegenstandes ihr Gepräge erhalten, während in den pdi_446.013
Seelenzuständen der anderen Seite das Subject sich über dem pdi_446.014
Gegenstande fühlt. In beiden Hälften der Linie, deren Mitte pdi_446.015
das Idealschöne bildet, entsteht schon hieraus eine Beimischung pdi_446.016
von Unlust, und aus deren Auflösung ein eigenthümlich pdi_446.017
Angenehmes. In dem einen Fall ist für das Gefühl etwas pdi_446.018
Uebergrosses in der Bedeutung des Objectes zu überwinden, pdi_446.019
im andern Falle etwas Geringes.

pdi_446.020

  Die Stimmung, in welcher ein Object erhaben erscheint, pdi_446.021
enthält, wie Burke unwidersprechlich erwiesen hat, irgend etwas pdi_446.022
von Furcht, Schrecken, Staunen in sich. Sie ist daher stets pdi_446.023
mit einer Unlusterregung gemischt. Indem sie aber das Seelenleben pdi_446.024
gleichsam zur Grösse des Objectes erweitert, mag diese pdi_446.025
Grösse in dem räumlich Unermesslichen oder in dem physisch pdi_446.026
Uebermächtigen oder dem Willens- und Geistesmächtigen bestehen: pdi_446.027
entspringt eine anhaltende starke Erregung: das eigenthümlich pdi_446.028
angenehme Gefühl tritt auf, das wir als Erhebung bezeichnen. pdi_446.029
In dem Tragischen ist die Zusammensetzung der Gefühle pdi_446.030
eine noch grössere. Denn das Unglück des Helden fügt der pdi_446.031
Furcht, welche sein heldenhafter Charakter, zugleich aber auch pdi_446.032
das Schicksal als Gegenspieler hervorrufen, das Mitleid bei. „Das pdi_446.033
grosse gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn pdi_446.034
es den Menschen zermalmt.“ So entsteht eine Steigerung derjenigen pdi_446.035
Erregung, die im Erhabenen liegt. Das Tragische nimmt pdi_446.036
eine bevorzugte Stellung ein. Denn es verbindet eine ergreifende

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0148" n="446"/><lb n="pdi_446.001"/>
Aufgabe lösen müssen, die Zusammensetzung dieser poetischen <lb n="pdi_446.002"/>
Stimmungen, dann deren Beziehungen zu einander und besonders <lb n="pdi_446.003"/>
ihre Wirkung auf den Stoff nach den dargestellten Gesetzen zu <lb n="pdi_446.004"/>
untersuchen. Bei dieser nüchternen Arbeit begegnen sie der <lb n="pdi_446.005"/>
Dialektik von Hegel, Solger, Weisse etc., die natürlich in diesen <lb n="pdi_446.006"/>
nachgiebigen, elastischen Thatsachen den ergiebigsten Stoff <lb n="pdi_446.007"/>
fand. Bezeichnet die Kategorie des Schönen den Zustand, in <lb n="pdi_446.008"/>
welchem das Object in völliger Angemessenheit an das auffassende <lb n="pdi_446.009"/> <hi rendition="#g">Seelenleben,</hi> ohne Störung und Unlustgefühl, die <lb n="pdi_446.010"/>
Seele erfüllt und gänzlich befriedigt, so schliessen sich nach der <lb n="pdi_446.011"/>
einen Seite Gefühlsaggregate an, welche durch die überragende <lb n="pdi_446.012"/>
Grösse des Gegenstandes ihr Gepräge erhalten, während in den <lb n="pdi_446.013"/>
Seelenzuständen der anderen Seite das Subject sich über dem <lb n="pdi_446.014"/>
Gegenstande fühlt. In beiden Hälften der Linie, deren Mitte <lb n="pdi_446.015"/>
das <hi rendition="#g">Idealschöne</hi> bildet, entsteht schon hieraus eine Beimischung <lb n="pdi_446.016"/>
von Unlust, und aus deren Auflösung ein eigenthümlich <lb n="pdi_446.017"/>
Angenehmes. In dem einen Fall ist für das Gefühl etwas <lb n="pdi_446.018"/> <hi rendition="#g">Uebergrosses</hi> in der Bedeutung des Objectes zu überwinden, <lb n="pdi_446.019"/>
im andern Falle etwas <hi rendition="#g">Geringes.</hi></p>
          <lb n="pdi_446.020"/>
          <p>  Die Stimmung, in welcher ein Object <hi rendition="#g">erhaben</hi> erscheint, <lb n="pdi_446.021"/>
enthält, wie Burke unwidersprechlich erwiesen hat, irgend etwas <lb n="pdi_446.022"/>
von Furcht, Schrecken, Staunen in sich. Sie ist daher stets <lb n="pdi_446.023"/>
mit einer Unlusterregung gemischt. Indem sie aber das Seelenleben <lb n="pdi_446.024"/>
gleichsam zur Grösse des Objectes erweitert, mag diese <lb n="pdi_446.025"/>
Grösse in dem räumlich Unermesslichen oder in dem physisch <lb n="pdi_446.026"/>
Uebermächtigen oder dem Willens- und Geistesmächtigen bestehen: <lb n="pdi_446.027"/>
entspringt eine anhaltende starke Erregung: das eigenthümlich <lb n="pdi_446.028"/>
angenehme Gefühl tritt auf, das wir als Erhebung bezeichnen. <lb n="pdi_446.029"/>
In dem <hi rendition="#g">Tragischen</hi> ist die Zusammensetzung der Gefühle <lb n="pdi_446.030"/>
eine noch grössere. Denn das Unglück des Helden fügt der <lb n="pdi_446.031"/>
Furcht, welche sein heldenhafter Charakter, zugleich aber auch <lb n="pdi_446.032"/>
das Schicksal als Gegenspieler hervorrufen, das Mitleid bei. &#x201E;Das <lb n="pdi_446.033"/>
grosse gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn <lb n="pdi_446.034"/>
es den Menschen zermalmt.&#x201C; So entsteht eine Steigerung derjenigen <lb n="pdi_446.035"/>
Erregung, die im Erhabenen liegt. Das Tragische nimmt <lb n="pdi_446.036"/>
eine bevorzugte Stellung ein. Denn es verbindet eine ergreifende
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[446/0148] pdi_446.001 Aufgabe lösen müssen, die Zusammensetzung dieser poetischen pdi_446.002 Stimmungen, dann deren Beziehungen zu einander und besonders pdi_446.003 ihre Wirkung auf den Stoff nach den dargestellten Gesetzen zu pdi_446.004 untersuchen. Bei dieser nüchternen Arbeit begegnen sie der pdi_446.005 Dialektik von Hegel, Solger, Weisse etc., die natürlich in diesen pdi_446.006 nachgiebigen, elastischen Thatsachen den ergiebigsten Stoff pdi_446.007 fand. Bezeichnet die Kategorie des Schönen den Zustand, in pdi_446.008 welchem das Object in völliger Angemessenheit an das auffassende pdi_446.009 Seelenleben, ohne Störung und Unlustgefühl, die pdi_446.010 Seele erfüllt und gänzlich befriedigt, so schliessen sich nach der pdi_446.011 einen Seite Gefühlsaggregate an, welche durch die überragende pdi_446.012 Grösse des Gegenstandes ihr Gepräge erhalten, während in den pdi_446.013 Seelenzuständen der anderen Seite das Subject sich über dem pdi_446.014 Gegenstande fühlt. In beiden Hälften der Linie, deren Mitte pdi_446.015 das Idealschöne bildet, entsteht schon hieraus eine Beimischung pdi_446.016 von Unlust, und aus deren Auflösung ein eigenthümlich pdi_446.017 Angenehmes. In dem einen Fall ist für das Gefühl etwas pdi_446.018 Uebergrosses in der Bedeutung des Objectes zu überwinden, pdi_446.019 im andern Falle etwas Geringes. pdi_446.020   Die Stimmung, in welcher ein Object erhaben erscheint, pdi_446.021 enthält, wie Burke unwidersprechlich erwiesen hat, irgend etwas pdi_446.022 von Furcht, Schrecken, Staunen in sich. Sie ist daher stets pdi_446.023 mit einer Unlusterregung gemischt. Indem sie aber das Seelenleben pdi_446.024 gleichsam zur Grösse des Objectes erweitert, mag diese pdi_446.025 Grösse in dem räumlich Unermesslichen oder in dem physisch pdi_446.026 Uebermächtigen oder dem Willens- und Geistesmächtigen bestehen: pdi_446.027 entspringt eine anhaltende starke Erregung: das eigenthümlich pdi_446.028 angenehme Gefühl tritt auf, das wir als Erhebung bezeichnen. pdi_446.029 In dem Tragischen ist die Zusammensetzung der Gefühle pdi_446.030 eine noch grössere. Denn das Unglück des Helden fügt der pdi_446.031 Furcht, welche sein heldenhafter Charakter, zugleich aber auch pdi_446.032 das Schicksal als Gegenspieler hervorrufen, das Mitleid bei. „Das pdi_446.033 grosse gigantische Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn pdi_446.034 es den Menschen zermalmt.“ So entsteht eine Steigerung derjenigen pdi_446.035 Erregung, die im Erhabenen liegt. Das Tragische nimmt pdi_446.036 eine bevorzugte Stellung ein. Denn es verbindet eine ergreifende

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/148
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/148>, abgerufen am 23.11.2024.