Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_343.001 Der Dichter unterscheidet sich alsdann durch die Klarheit pdi_343.027 pdi_343.001 Der Dichter unterscheidet sich alsdann durch die Klarheit pdi_343.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0045" n="343"/><lb n="pdi_343.001"/> nicht von ihrem Haften im Gedächtniss trennen. Shakespeare hat <lb n="pdi_343.002"/> etwa 15000 Wörter, nach M. Müllers Berechnung, zur Verfügung; <lb n="pdi_343.003"/> ebenso königlich beherrscht Goethe unsere Muttersprache. <lb n="pdi_343.004"/> Shakespeares Kenntniss von Rechtsgeschäften hat man auf die <lb n="pdi_343.005"/> Fachkenntniss des Advocatenschreibers zurückgeführt, und von <lb n="pdi_343.006"/> seinen Schilderungen des Wahnsinns glauben Psychiatriker wie <lb n="pdi_343.007"/> von der Natur selber lernen zu können. Wir sehen Goethe <lb n="pdi_343.008"/> heute mit einem Anatomen wie ein Fachmann verhandeln, <lb n="pdi_343.009"/> morgen mit einem Botaniker, dann mit einem Kunsthistoriker <lb n="pdi_343.010"/> oder Philosophen. Zu der Anlage kommt die besondere Art <lb n="pdi_343.011"/> des Interesses. Für den Menschen, dem die Bilder in Verhältniss <lb n="pdi_343.012"/> zu seinen beabsichtigten Handlungen oder seinen herzustellenden <lb n="pdi_343.013"/> Erkenntnissen stehen, sind diese Bilder Zeichen für <lb n="pdi_343.014"/> etwas, das in der Rechnung der Absichten oder in den Relationen <lb n="pdi_343.015"/> zu dem Erkennbaren eine bestimmte Stelle einnimmt. <lb n="pdi_343.016"/> Das dichterische Genie ist dem Erlebniss, dem Bilde hingegeben, <lb n="pdi_343.017"/> mit einem selbständigen Interesse an ihnen, mit ruhiger Befriedigung <lb n="pdi_343.018"/> in der Anschauung, so oft es auch durch das äussere <lb n="pdi_343.019"/> Leben oder die Wissenschaft abgelenkt wird. Es ist wie ein <lb n="pdi_343.020"/> Reisender in einem fremden Lande, der sich den Eindrücken <lb n="pdi_343.021"/> desselben absichtslos, mit tiefem Behagen und in völliger Freiheit <lb n="pdi_343.022"/> überlässt. Dies verleiht ihm den Charakter von Naivität und <lb n="pdi_343.023"/> Kindlichkeit, der an Mozart, Goethe und vielen anderen grossen <lb n="pdi_343.024"/> Künstlern hervorgehoben wird und sich sehr wohl mit einem <lb n="pdi_343.025"/> nebenhergehenden System von zielbewussten Handlungen verträgt.</p> <lb n="pdi_343.026"/> <p> Der Dichter unterscheidet sich alsdann durch die Klarheit <lb n="pdi_343.027"/> der Zeichnung, die Stärke der Empfindung und die Energie der <lb n="pdi_343.028"/> Projection, welche seinen <hi rendition="#g">Erinnerungsbildern</hi> und den Gebilden <lb n="pdi_343.029"/> aus ihnen eigen sind. Wenn der Reiz aufhört, kann im <lb n="pdi_343.030"/> Sinnesorgan die Erregung fortdauern; dann geht die Wahrnehmung <lb n="pdi_343.031"/> in ein Nachbild über. Wo auch diese Erregung der Sinnesnerven <lb n="pdi_343.032"/> nicht mehr fortbesteht, kann der Inhalt der Wahrnehmung als <lb n="pdi_343.033"/> Vorstellung fortdauern oder reproducirt werden. Die Vorstellung, <lb n="pdi_343.034"/> die ohne Zwischeneintreten einer anderen sich an die Wahrnehmung <lb n="pdi_343.035"/> anschliesst, steht derselben in Bezug auf ihre Beschaffenheit <lb n="pdi_343.036"/> am nächsten. Fechner nennt sie das Erinnerungsnachbild. </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [343/0045]
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nicht von ihrem Haften im Gedächtniss trennen. Shakespeare hat pdi_343.002
etwa 15000 Wörter, nach M. Müllers Berechnung, zur Verfügung; pdi_343.003
ebenso königlich beherrscht Goethe unsere Muttersprache. pdi_343.004
Shakespeares Kenntniss von Rechtsgeschäften hat man auf die pdi_343.005
Fachkenntniss des Advocatenschreibers zurückgeführt, und von pdi_343.006
seinen Schilderungen des Wahnsinns glauben Psychiatriker wie pdi_343.007
von der Natur selber lernen zu können. Wir sehen Goethe pdi_343.008
heute mit einem Anatomen wie ein Fachmann verhandeln, pdi_343.009
morgen mit einem Botaniker, dann mit einem Kunsthistoriker pdi_343.010
oder Philosophen. Zu der Anlage kommt die besondere Art pdi_343.011
des Interesses. Für den Menschen, dem die Bilder in Verhältniss pdi_343.012
zu seinen beabsichtigten Handlungen oder seinen herzustellenden pdi_343.013
Erkenntnissen stehen, sind diese Bilder Zeichen für pdi_343.014
etwas, das in der Rechnung der Absichten oder in den Relationen pdi_343.015
zu dem Erkennbaren eine bestimmte Stelle einnimmt. pdi_343.016
Das dichterische Genie ist dem Erlebniss, dem Bilde hingegeben, pdi_343.017
mit einem selbständigen Interesse an ihnen, mit ruhiger Befriedigung pdi_343.018
in der Anschauung, so oft es auch durch das äussere pdi_343.019
Leben oder die Wissenschaft abgelenkt wird. Es ist wie ein pdi_343.020
Reisender in einem fremden Lande, der sich den Eindrücken pdi_343.021
desselben absichtslos, mit tiefem Behagen und in völliger Freiheit pdi_343.022
überlässt. Dies verleiht ihm den Charakter von Naivität und pdi_343.023
Kindlichkeit, der an Mozart, Goethe und vielen anderen grossen pdi_343.024
Künstlern hervorgehoben wird und sich sehr wohl mit einem pdi_343.025
nebenhergehenden System von zielbewussten Handlungen verträgt.
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Der Dichter unterscheidet sich alsdann durch die Klarheit pdi_343.027
der Zeichnung, die Stärke der Empfindung und die Energie der pdi_343.028
Projection, welche seinen Erinnerungsbildern und den Gebilden pdi_343.029
aus ihnen eigen sind. Wenn der Reiz aufhört, kann im pdi_343.030
Sinnesorgan die Erregung fortdauern; dann geht die Wahrnehmung pdi_343.031
in ein Nachbild über. Wo auch diese Erregung der Sinnesnerven pdi_343.032
nicht mehr fortbesteht, kann der Inhalt der Wahrnehmung als pdi_343.033
Vorstellung fortdauern oder reproducirt werden. Die Vorstellung, pdi_343.034
die ohne Zwischeneintreten einer anderen sich an die Wahrnehmung pdi_343.035
anschliesst, steht derselben in Bezug auf ihre Beschaffenheit pdi_343.036
am nächsten. Fechner nennt sie das Erinnerungsnachbild.
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