Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_346.001 1) pdi_346.035
Forster, Dickens' Leben, übers. v. Althaus II 134. pdi_346.001 1) pdi_346.035
Forster, Dickens' Leben, übers. v. Althaus II 134. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0048" n="346"/><lb n="pdi_346.001"/> Neubildungen von Gefühlen oder von Spannungen des Willens <lb n="pdi_346.002"/> und verleihen diesen Nachbildungen Lebendigkeit, stören aber <lb n="pdi_346.003"/> andrerseits ihre Reinheit, besonders bei dichterischen Werken. <lb n="pdi_346.004"/> Solche Einmischungen sind es, welche in dem bürgerlichen <lb n="pdi_346.005"/> Schauspiel Mitleid und Furcht verfälschen, indem sie Erinnerung <lb n="pdi_346.006"/> eigener schmerzlicher Lagen oder Befürchtung derselben <lb n="pdi_346.007"/> aufrufen, und nicht am wenigsten aus diesem Grunde bedarf <lb n="pdi_346.008"/> die Tragödie der königlichen Helden, welche in reiner Ferne <lb n="pdi_346.009"/> vom Beschauer sich befinden. Hier treten wir in das eigenste <lb n="pdi_346.010"/> Gebiet des Dichters: Erlebniss und seine Nachbildung in der <lb n="pdi_346.011"/> Phantasie. Zunächst ist die Energie dieser Nachbildungen abhängig <lb n="pdi_346.012"/> von der ursprünglichen Kraft der Gefühle, Affecte und <lb n="pdi_346.013"/> Willensvorgänge. Alsdann bleiben Nachbildungen derselben in <lb n="pdi_346.014"/> ganz verschiedenem Grade nach Deutlichkeit, Energie und Mitschwingung <lb n="pdi_346.015"/> des eigenen Inneren hinter den ursprünglichen Vorgängen <lb n="pdi_346.016"/> zurück. Da sie von der Erinnerung der äusseren Wahrnehmungen <lb n="pdi_346.017"/> nirgend getrennt sind, haben wir schon in die Beispiele <lb n="pdi_346.018"/> von der Energie der Erinnerungsbilder Angaben über die <lb n="pdi_346.019"/> Stärke dieser Nachbildungen verwoben. Ich füge eine Aeusserung <lb n="pdi_346.020"/> von Dickens hinzu. Als er sich dem Ende seiner Erzählung Sylvesterglocken <lb n="pdi_346.021"/> näherte, schrieb er: „seit ich das ausdachte, was <lb n="pdi_346.022"/> im dritten Theile geschehen muss, habe ich so viel Kummer <lb n="pdi_346.023"/> und Gemüthsbewegungen ausgestanden, als wäre die Sache etwas <lb n="pdi_346.024"/> Wirkliches, und bin bei Nacht davon aufgewacht. Ich musste <lb n="pdi_346.025"/> mich einschliessen, als ich gestern damit fertig war; denn mein <lb n="pdi_346.026"/> Gesicht war zu dem Doppelten seiner gewöhnlichen Grösse angeschwollen <lb n="pdi_346.027"/> und gewaltig lächerlich.“<note xml:id="PDI_346_1" place="foot" n="1)"><lb n="pdi_346.035"/> Forster, Dickens' Leben, übers. v. Althaus II 134.</note> Goethe erzählt am 18. <lb n="pdi_346.028"/> October 1786, wie er, zwischen Schlaf und Wachen, den Plan <lb n="pdi_346.029"/> zur Iphigenie in Delphi gefunden, darin eine Wiedererkennungsscene: <lb n="pdi_346.030"/> „ich habe selber darüber geweint wie ein Kind.“ Und <lb n="pdi_346.031"/> Goethe äusserte an Schiller, er wisse nicht, ob er eine wahre <lb n="pdi_346.032"/> Tragödie schreiben könne, doch erschrecke er schon vor dem <lb n="pdi_346.033"/> Unternehmen und sei beinahe überzeugt, dass er sich durch den <lb n="pdi_346.034"/> blossen Versuch zerstören könne. Aus der Lebendigkeit der </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [346/0048]
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Neubildungen von Gefühlen oder von Spannungen des Willens pdi_346.002
und verleihen diesen Nachbildungen Lebendigkeit, stören aber pdi_346.003
andrerseits ihre Reinheit, besonders bei dichterischen Werken. pdi_346.004
Solche Einmischungen sind es, welche in dem bürgerlichen pdi_346.005
Schauspiel Mitleid und Furcht verfälschen, indem sie Erinnerung pdi_346.006
eigener schmerzlicher Lagen oder Befürchtung derselben pdi_346.007
aufrufen, und nicht am wenigsten aus diesem Grunde bedarf pdi_346.008
die Tragödie der königlichen Helden, welche in reiner Ferne pdi_346.009
vom Beschauer sich befinden. Hier treten wir in das eigenste pdi_346.010
Gebiet des Dichters: Erlebniss und seine Nachbildung in der pdi_346.011
Phantasie. Zunächst ist die Energie dieser Nachbildungen abhängig pdi_346.012
von der ursprünglichen Kraft der Gefühle, Affecte und pdi_346.013
Willensvorgänge. Alsdann bleiben Nachbildungen derselben in pdi_346.014
ganz verschiedenem Grade nach Deutlichkeit, Energie und Mitschwingung pdi_346.015
des eigenen Inneren hinter den ursprünglichen Vorgängen pdi_346.016
zurück. Da sie von der Erinnerung der äusseren Wahrnehmungen pdi_346.017
nirgend getrennt sind, haben wir schon in die Beispiele pdi_346.018
von der Energie der Erinnerungsbilder Angaben über die pdi_346.019
Stärke dieser Nachbildungen verwoben. Ich füge eine Aeusserung pdi_346.020
von Dickens hinzu. Als er sich dem Ende seiner Erzählung Sylvesterglocken pdi_346.021
näherte, schrieb er: „seit ich das ausdachte, was pdi_346.022
im dritten Theile geschehen muss, habe ich so viel Kummer pdi_346.023
und Gemüthsbewegungen ausgestanden, als wäre die Sache etwas pdi_346.024
Wirkliches, und bin bei Nacht davon aufgewacht. Ich musste pdi_346.025
mich einschliessen, als ich gestern damit fertig war; denn mein pdi_346.026
Gesicht war zu dem Doppelten seiner gewöhnlichen Grösse angeschwollen pdi_346.027
und gewaltig lächerlich.“ 1) Goethe erzählt am 18. pdi_346.028
October 1786, wie er, zwischen Schlaf und Wachen, den Plan pdi_346.029
zur Iphigenie in Delphi gefunden, darin eine Wiedererkennungsscene: pdi_346.030
„ich habe selber darüber geweint wie ein Kind.“ Und pdi_346.031
Goethe äusserte an Schiller, er wisse nicht, ob er eine wahre pdi_346.032
Tragödie schreiben könne, doch erschrecke er schon vor dem pdi_346.033
Unternehmen und sei beinahe überzeugt, dass er sich durch den pdi_346.034
blossen Versuch zerstören könne. Aus der Lebendigkeit der
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Forster, Dickens' Leben, übers. v. Althaus II 134.
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