Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_369.001
sowie das Verhältniss der Ueberschaubarkeit und Einheit eines pdi_369.002
Mannigfachen im Denken zu dem in diesem Mannigfaltigen gegebenen pdi_369.003
Reichthum. Dies Verhältniss ermöglicht uns, gleich fern pdi_369.004
von Zerstreuung und langweiliger Monotonie, in receptivem Verhalten pdi_369.005
Befriedigung zu finden.1) Ebenso entspringt hier das pdi_369.006
folgende vom Verhältniss der Vorstellungen im Denken ausgehende pdi_369.007
Gefühl: "wenn von einander abweichende Anlässe, sich pdi_369.008
eine und dieselbe Sache vorzustellen, eintreten, so ist es im pdi_369.009
Sinne der Lust, gewahr zu werden, dass sie wirklich auf eine pdi_369.010
übereinstimmende Vorstellung führen, im Sinne der Unlust, pdi_369.011
gewahr zu werden, dass sie auf eine widersprechende Vorstellung pdi_369.012
führen."2) Natürlich müssen hierbei die Beziehungen pdi_369.013
zwischen Vorstellungen im Denken, wie Gleichheit und Unterschied, pdi_369.014
Einstimmigkeit und Widerspruch, so weit in klares Bewusstsein pdi_369.015
erhoben werden, dass eine Wirkung dieser Beziehungen auf das pdi_369.016
ästhetische Gefühl möglich wird.3) Fassen wir dies Alles zusammen, pdi_369.017
so gefällt ein Kunstwerk, weil die Formen der Vorstellungs- pdi_369.018
und Denkvorgänge, welche seine Auffassung im pdi_369.019
Empfangenden hervorruft, noch abgesehen von der Beziehung pdi_369.020
des Gehaltes zu den inhaltlichen Antrieben, von Lust begleitet pdi_369.021
sind. Ich bezeichne dies als das Princip des Wohlgefälligen pdi_369.022
aus der denkenden Verknüpfung der Vorstellungen. pdi_369.023
Geschichtlich bedeutende Einzelprincipien sind in ihm enthalten: pdi_369.024
Einheit des Interesses, "Viel aus Einem und in Einem" von pdi_369.025
Leibniz, Einheit im Mannigfaltigen, Verstandesangemessenheit. pdi_369.026
Das ausgehende siebzehnte und das anhebende achtzehnte Jahrhundert pdi_369.027
haben dies Princip besonders der Kunst und Poesie zu

1) pdi_369.028
Nach den älteren Aesthetikern am besten behandelt von Fechner, pdi_369.029
Vorschule der Aesthetik I 53 ff. als Princip der einheitlichen Verknüpfung pdi_369.030
des Mannigfaltigen.
2) pdi_369.031
So formulirt Fechner I 80 ff. das Princip der Widerspruchslosigkeit, pdi_369.032
Einstimmigkeit oder Wahrheit.
3) pdi_369.033
Dieser Satz I 84 f. von Fechner als Princip der Klarheit bezeichnet. pdi_369.034
Die drei erörterten Principien fasst Fechner zusammen als die "drei obersten pdi_369.035
Formalprincipe".

pdi_369.001
sowie das Verhältniss der Ueberschaubarkeit und Einheit eines pdi_369.002
Mannigfachen im Denken zu dem in diesem Mannigfaltigen gegebenen pdi_369.003
Reichthum. Dies Verhältniss ermöglicht uns, gleich fern pdi_369.004
von Zerstreuung und langweiliger Monotonie, in receptivem Verhalten pdi_369.005
Befriedigung zu finden.1) Ebenso entspringt hier das pdi_369.006
folgende vom Verhältniss der Vorstellungen im Denken ausgehende pdi_369.007
Gefühl: „wenn von einander abweichende Anlässe, sich pdi_369.008
eine und dieselbe Sache vorzustellen, eintreten, so ist es im pdi_369.009
Sinne der Lust, gewahr zu werden, dass sie wirklich auf eine pdi_369.010
übereinstimmende Vorstellung führen, im Sinne der Unlust, pdi_369.011
gewahr zu werden, dass sie auf eine widersprechende Vorstellung pdi_369.012
führen.“2) Natürlich müssen hierbei die Beziehungen pdi_369.013
zwischen Vorstellungen im Denken, wie Gleichheit und Unterschied, pdi_369.014
Einstimmigkeit und Widerspruch, so weit in klares Bewusstsein pdi_369.015
erhoben werden, dass eine Wirkung dieser Beziehungen auf das pdi_369.016
ästhetische Gefühl möglich wird.3) Fassen wir dies Alles zusammen, pdi_369.017
so gefällt ein Kunstwerk, weil die Formen der Vorstellungs- pdi_369.018
und Denkvorgänge, welche seine Auffassung im pdi_369.019
Empfangenden hervorruft, noch abgesehen von der Beziehung pdi_369.020
des Gehaltes zu den inhaltlichen Antrieben, von Lust begleitet pdi_369.021
sind. Ich bezeichne dies als das Princip des Wohlgefälligen pdi_369.022
aus der denkenden Verknüpfung der Vorstellungen. pdi_369.023
Geschichtlich bedeutende Einzelprincipien sind in ihm enthalten: pdi_369.024
Einheit des Interesses, „Viel aus Einem und in Einem“ von pdi_369.025
Leibniz, Einheit im Mannigfaltigen, Verstandesangemessenheit. pdi_369.026
Das ausgehende siebzehnte und das anhebende achtzehnte Jahrhundert pdi_369.027
haben dies Princip besonders der Kunst und Poesie zu

1) pdi_369.028
Nach den älteren Aesthetikern am besten behandelt von Fechner, pdi_369.029
Vorschule der Aesthetik I 53 ff. als Princip der einheitlichen Verknüpfung pdi_369.030
des Mannigfaltigen.
2) pdi_369.031
So formulirt Fechner I 80 ff. das Princip der Widerspruchslosigkeit, pdi_369.032
Einstimmigkeit oder Wahrheit.
3) pdi_369.033
Dieser Satz I 84 f. von Fechner als Princip der Klarheit bezeichnet. pdi_369.034
Die drei erörterten Principien fasst Fechner zusammen als die „drei obersten pdi_369.035
Formalprincipe“.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0071" n="369"/><lb n="pdi_369.001"/>
sowie das Verhältniss der Ueberschaubarkeit und Einheit eines <lb n="pdi_369.002"/>
Mannigfachen im Denken zu dem in diesem Mannigfaltigen gegebenen <lb n="pdi_369.003"/>
Reichthum. Dies Verhältniss ermöglicht uns, gleich fern <lb n="pdi_369.004"/>
von Zerstreuung und langweiliger Monotonie, in receptivem Verhalten <lb n="pdi_369.005"/>
Befriedigung zu finden.<note xml:id="PDI_369_1" place="foot" n="1)"><lb n="pdi_369.028"/>
Nach den älteren Aesthetikern am besten behandelt von Fechner, <lb n="pdi_369.029"/>
Vorschule der Aesthetik I 53 ff. als <hi rendition="#g">Princip</hi> der <hi rendition="#g">einheitlichen Verknüpfung</hi> <lb n="pdi_369.030"/>
des <hi rendition="#g">Mannigfaltigen.</hi></note> Ebenso entspringt hier das <lb n="pdi_369.006"/>
folgende vom Verhältniss der Vorstellungen im Denken ausgehende <lb n="pdi_369.007"/>
Gefühl: &#x201E;wenn von einander abweichende Anlässe, sich <lb n="pdi_369.008"/>
eine und dieselbe Sache vorzustellen, eintreten, so ist es im <lb n="pdi_369.009"/>
Sinne der Lust, gewahr zu werden, dass sie wirklich auf eine <lb n="pdi_369.010"/>
übereinstimmende Vorstellung führen, im Sinne der Unlust, <lb n="pdi_369.011"/>
gewahr zu werden, dass sie auf eine widersprechende Vorstellung <lb n="pdi_369.012"/>
führen.&#x201C;<note xml:id="PDI_369_2" place="foot" n="2)"><lb n="pdi_369.031"/>
So formulirt Fechner I 80 ff. das Princip der <hi rendition="#g">Widerspruchslosigkeit,</hi> <lb n="pdi_369.032"/>
Einstimmigkeit oder Wahrheit.</note> Natürlich müssen hierbei die Beziehungen <lb n="pdi_369.013"/>
zwischen Vorstellungen im Denken, wie Gleichheit und Unterschied, <lb n="pdi_369.014"/>
Einstimmigkeit und Widerspruch, so weit in klares Bewusstsein <lb n="pdi_369.015"/>
erhoben werden, dass eine Wirkung dieser Beziehungen auf das <lb n="pdi_369.016"/>
ästhetische Gefühl möglich wird.<note xml:id="PDI_369_3" place="foot" n="3)"><lb n="pdi_369.033"/>
Dieser Satz I 84 f. von Fechner als Princip der <hi rendition="#g">Klarheit</hi> bezeichnet. <lb n="pdi_369.034"/>
Die drei erörterten Principien fasst Fechner zusammen als die &#x201E;drei obersten <lb n="pdi_369.035"/>
Formalprincipe&#x201C;.</note> Fassen wir dies Alles zusammen, <lb n="pdi_369.017"/>
so gefällt ein Kunstwerk, weil die Formen der Vorstellungs- <lb n="pdi_369.018"/>
und Denkvorgänge, welche seine Auffassung im <lb n="pdi_369.019"/>
Empfangenden hervorruft, noch abgesehen von der Beziehung <lb n="pdi_369.020"/>
des Gehaltes zu den inhaltlichen Antrieben, von Lust begleitet <lb n="pdi_369.021"/>
sind. Ich bezeichne dies als das <hi rendition="#g">Princip</hi> des <hi rendition="#g">Wohlgefälligen</hi> <lb n="pdi_369.022"/>
aus der <hi rendition="#g">denkenden Verknüpfung</hi> der <hi rendition="#g">Vorstellungen.</hi> <lb n="pdi_369.023"/>
Geschichtlich bedeutende Einzelprincipien sind in ihm enthalten: <lb n="pdi_369.024"/>
Einheit des Interesses, &#x201E;Viel aus Einem und in Einem&#x201C; von <lb n="pdi_369.025"/>
Leibniz, Einheit im Mannigfaltigen, Verstandesangemessenheit. <lb n="pdi_369.026"/>
Das ausgehende siebzehnte und das anhebende achtzehnte Jahrhundert <lb n="pdi_369.027"/>
haben dies Princip besonders der Kunst und Poesie zu
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[369/0071] pdi_369.001 sowie das Verhältniss der Ueberschaubarkeit und Einheit eines pdi_369.002 Mannigfachen im Denken zu dem in diesem Mannigfaltigen gegebenen pdi_369.003 Reichthum. Dies Verhältniss ermöglicht uns, gleich fern pdi_369.004 von Zerstreuung und langweiliger Monotonie, in receptivem Verhalten pdi_369.005 Befriedigung zu finden. 1) Ebenso entspringt hier das pdi_369.006 folgende vom Verhältniss der Vorstellungen im Denken ausgehende pdi_369.007 Gefühl: „wenn von einander abweichende Anlässe, sich pdi_369.008 eine und dieselbe Sache vorzustellen, eintreten, so ist es im pdi_369.009 Sinne der Lust, gewahr zu werden, dass sie wirklich auf eine pdi_369.010 übereinstimmende Vorstellung führen, im Sinne der Unlust, pdi_369.011 gewahr zu werden, dass sie auf eine widersprechende Vorstellung pdi_369.012 führen.“ 2) Natürlich müssen hierbei die Beziehungen pdi_369.013 zwischen Vorstellungen im Denken, wie Gleichheit und Unterschied, pdi_369.014 Einstimmigkeit und Widerspruch, so weit in klares Bewusstsein pdi_369.015 erhoben werden, dass eine Wirkung dieser Beziehungen auf das pdi_369.016 ästhetische Gefühl möglich wird. 3) Fassen wir dies Alles zusammen, pdi_369.017 so gefällt ein Kunstwerk, weil die Formen der Vorstellungs- pdi_369.018 und Denkvorgänge, welche seine Auffassung im pdi_369.019 Empfangenden hervorruft, noch abgesehen von der Beziehung pdi_369.020 des Gehaltes zu den inhaltlichen Antrieben, von Lust begleitet pdi_369.021 sind. Ich bezeichne dies als das Princip des Wohlgefälligen pdi_369.022 aus der denkenden Verknüpfung der Vorstellungen. pdi_369.023 Geschichtlich bedeutende Einzelprincipien sind in ihm enthalten: pdi_369.024 Einheit des Interesses, „Viel aus Einem und in Einem“ von pdi_369.025 Leibniz, Einheit im Mannigfaltigen, Verstandesangemessenheit. pdi_369.026 Das ausgehende siebzehnte und das anhebende achtzehnte Jahrhundert pdi_369.027 haben dies Princip besonders der Kunst und Poesie zu 1) pdi_369.028 Nach den älteren Aesthetikern am besten behandelt von Fechner, pdi_369.029 Vorschule der Aesthetik I 53 ff. als Princip der einheitlichen Verknüpfung pdi_369.030 des Mannigfaltigen. 2) pdi_369.031 So formulirt Fechner I 80 ff. das Princip der Widerspruchslosigkeit, pdi_369.032 Einstimmigkeit oder Wahrheit. 3) pdi_369.033 Dieser Satz I 84 f. von Fechner als Princip der Klarheit bezeichnet. pdi_369.034 Die drei erörterten Principien fasst Fechner zusammen als die „drei obersten pdi_369.035 Formalprincipe“.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/71
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/71>, abgerufen am 26.11.2024.