Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite
pdi_375.001
5. Die Gleichförmigkeiten im Causalzusammenhang pdi_375.002
des Gefühlslebens und einige aus ihnen pdi_375.003
stammende höhere Gesetze der Poetik.
pdi_375.004

Wir betrachteten, wie aus einzelnen Classen von Ante pdi_375.005
cedenzien einzelne Gefühlskreise entstehen. Diese elementaren pdi_375.006
Gefühle stehen nun aber in Verhältnissen zu einander. Wie pdi_375.007
Empfindungen als Vorstellungen reproducirt werden, so pdi_375.008
werden auch Gefühle zurückgerufen. Und da diese Gefühle pdi_375.009
in Antriebe übergehen können, liegt in ihnen selber eine Ursache pdi_375.010
der Veränderung. Aus diesen drei Causalverhältnissen pdi_375.011
entspringen Gesetze der ästhetischen Wirkung und des ästhetischen pdi_375.012
Schaffens, die hier für die Poetik zu begründen sind.

pdi_375.013

Die Art, wie elementare Gefühle sich verbinden, ist pdi_375.014
von der verschieden, in welcher Empfindungen oder Vorstellungen pdi_375.015
sich verknüpfen. Unsere Gefühle verschmelzen in der Unterschiedslosigkeit pdi_375.016
des Gemein-, des Lebensgefühls, wo sie nicht von den pdi_375.017
Vorstellungen auseinandergehalten werden. Indem Lustgefühle pdi_375.018
von ganz verschiedenen Antecedenzien und verschiedenem Charakter pdi_375.019
durch einen Gegenstand angeregt werden, wächst die pdi_375.020
Stärke der Lust; indem also aus den dargestellten Gefühls pdi_375.021
kreisen ästhetisches Gefallen am einzelnen Klang, an der Ton pdi_375.022
folge, am Rhythmus, an der Verknüpfung der Bilder zur Ein pdi_375.023
heit und an der Mächtigkeit derselben zusammentreten, entsteht pdi_375.024
eine Stärke des Totaleffectes, die wir wie eine Einheit fühlen. Es pdi_375.025
ist höchst bemerkenswerth, wie an sich kleine Wirkungen des pdi_375.026
Einzelklangs, des Reims, des Rhythmus einen erheblichen poetischen pdi_375.027
Effect, in der Verbindung mit ästhetischen Wirkungen aus pdi_375.028
dem Inhalt, hervorbringen. Löst man das schönste Gedicht in pdi_375.029
Prosa auf, so ist seine ästhetische Wirkung beinahe verloren. pdi_375.030
Hieraus hat Fechner das folgende ästhetische Princip ableiten zu pdi_375.031
dürfen geglaubt, welches dann freilich ein sehr auffälliges psychologisches pdi_375.032
Gesetz zum Hintergrunde haben würde. (I 50) "Aus pdi_375.033
dem widerspruchslosen Zusammentreffen von Lustbedingungen, pdi_375.034
die für sich wenig leisten, geht ein grösseres, oft viel grösseres pdi_375.035
Lustresultat hervor, als dem Lustwerthe der einzelnen Bedingungen

pdi_375.001
5. Die Gleichförmigkeiten im Causalzusammenhang pdi_375.002
des Gefühlslebens und einige aus ihnen pdi_375.003
stammende höhere Gesetze der Poetik.
pdi_375.004

  Wir betrachteten, wie aus einzelnen Classen von Ante pdi_375.005
cedenzien einzelne Gefühlskreise entstehen. Diese elementaren pdi_375.006
Gefühle stehen nun aber in Verhältnissen zu einander. Wie pdi_375.007
Empfindungen als Vorstellungen reproducirt werden, so pdi_375.008
werden auch Gefühle zurückgerufen. Und da diese Gefühle pdi_375.009
in Antriebe übergehen können, liegt in ihnen selber eine Ursache pdi_375.010
der Veränderung. Aus diesen drei Causalverhältnissen pdi_375.011
entspringen Gesetze der ästhetischen Wirkung und des ästhetischen pdi_375.012
Schaffens, die hier für die Poetik zu begründen sind.

pdi_375.013

  Die Art, wie elementare Gefühle sich verbinden, ist pdi_375.014
von der verschieden, in welcher Empfindungen oder Vorstellungen pdi_375.015
sich verknüpfen. Unsere Gefühle verschmelzen in der Unterschiedslosigkeit pdi_375.016
des Gemein-, des Lebensgefühls, wo sie nicht von den pdi_375.017
Vorstellungen auseinandergehalten werden. Indem Lustgefühle pdi_375.018
von ganz verschiedenen Antecedenzien und verschiedenem Charakter pdi_375.019
durch einen Gegenstand angeregt werden, wächst die pdi_375.020
Stärke der Lust; indem also aus den dargestellten Gefühls pdi_375.021
kreisen ästhetisches Gefallen am einzelnen Klang, an der Ton pdi_375.022
folge, am Rhythmus, an der Verknüpfung der Bilder zur Ein pdi_375.023
heit und an der Mächtigkeit derselben zusammentreten, entsteht pdi_375.024
eine Stärke des Totaleffectes, die wir wie eine Einheit fühlen. Es pdi_375.025
ist höchst bemerkenswerth, wie an sich kleine Wirkungen des pdi_375.026
Einzelklangs, des Reims, des Rhythmus einen erheblichen poetischen pdi_375.027
Effect, in der Verbindung mit ästhetischen Wirkungen aus pdi_375.028
dem Inhalt, hervorbringen. Löst man das schönste Gedicht in pdi_375.029
Prosa auf, so ist seine ästhetische Wirkung beinahe verloren. pdi_375.030
Hieraus hat Fechner das folgende ästhetische Princip ableiten zu pdi_375.031
dürfen geglaubt, welches dann freilich ein sehr auffälliges psychologisches pdi_375.032
Gesetz zum Hintergrunde haben würde. (I 50) „Aus pdi_375.033
dem widerspruchslosen Zusammentreffen von Lustbedingungen, pdi_375.034
die für sich wenig leisten, geht ein grösseres, oft viel grösseres pdi_375.035
Lustresultat hervor, als dem Lustwerthe der einzelnen Bedingungen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0077" n="375"/>
        </div>
        <div n="2">
          <lb n="pdi_375.001"/>
          <head> <hi rendition="#c">5. <hi rendition="#g">Die Gleichförmigkeiten im Causalzusammenhang <lb n="pdi_375.002"/>
des Gefühlslebens und einige aus ihnen <lb n="pdi_375.003"/>
stammende höhere Gesetze der Poetik.</hi></hi> </head>
          <lb n="pdi_375.004"/>
          <p>  Wir betrachteten, wie aus einzelnen Classen von Ante <lb n="pdi_375.005"/>
cedenzien einzelne Gefühlskreise entstehen. Diese elementaren <lb n="pdi_375.006"/>
Gefühle stehen nun aber in Verhältnissen zu einander. Wie <lb n="pdi_375.007"/>
Empfindungen als Vorstellungen reproducirt werden, so <lb n="pdi_375.008"/>
werden auch Gefühle zurückgerufen. Und da diese Gefühle <lb n="pdi_375.009"/>
in Antriebe übergehen können, liegt in ihnen selber eine Ursache <lb n="pdi_375.010"/>
der Veränderung. Aus diesen drei Causalverhältnissen <lb n="pdi_375.011"/>
entspringen Gesetze der ästhetischen Wirkung und des ästhetischen <lb n="pdi_375.012"/>
Schaffens, die hier für die Poetik zu begründen sind.</p>
          <lb n="pdi_375.013"/>
          <p>  Die Art, wie <hi rendition="#g">elementare Gefühle</hi> sich <hi rendition="#g">verbinden,</hi> ist <lb n="pdi_375.014"/>
von der verschieden, in welcher Empfindungen oder Vorstellungen <lb n="pdi_375.015"/>
sich verknüpfen. Unsere Gefühle verschmelzen in der Unterschiedslosigkeit <lb n="pdi_375.016"/>
des Gemein-, des Lebensgefühls, wo sie nicht von den <lb n="pdi_375.017"/>
Vorstellungen auseinandergehalten werden. Indem Lustgefühle <lb n="pdi_375.018"/>
von ganz verschiedenen Antecedenzien und verschiedenem Charakter <lb n="pdi_375.019"/>
durch einen Gegenstand angeregt werden, wächst die <lb n="pdi_375.020"/>
Stärke der Lust; indem also aus den dargestellten Gefühls <lb n="pdi_375.021"/>
kreisen ästhetisches Gefallen am einzelnen Klang, an der Ton <lb n="pdi_375.022"/>
folge, am Rhythmus, an der Verknüpfung der Bilder zur Ein <lb n="pdi_375.023"/>
heit und an der Mächtigkeit derselben zusammentreten, entsteht <lb n="pdi_375.024"/>
eine Stärke des Totaleffectes, die wir wie eine Einheit fühlen. Es <lb n="pdi_375.025"/>
ist höchst bemerkenswerth, wie an sich kleine Wirkungen des <lb n="pdi_375.026"/>
Einzelklangs, des Reims, des Rhythmus einen erheblichen poetischen <lb n="pdi_375.027"/>
Effect, in der Verbindung mit ästhetischen Wirkungen aus <lb n="pdi_375.028"/>
dem Inhalt, hervorbringen. Löst man das schönste Gedicht in <lb n="pdi_375.029"/>
Prosa auf, so ist seine ästhetische Wirkung beinahe verloren. <lb n="pdi_375.030"/>
Hieraus hat Fechner das folgende ästhetische Princip ableiten zu <lb n="pdi_375.031"/>
dürfen geglaubt, welches dann freilich ein sehr auffälliges psychologisches <lb n="pdi_375.032"/>
Gesetz zum Hintergrunde haben würde. (I 50) &#x201E;Aus <lb n="pdi_375.033"/>
dem widerspruchslosen Zusammentreffen von Lustbedingungen, <lb n="pdi_375.034"/>
die für sich wenig leisten, geht ein grösseres, oft viel grösseres <lb n="pdi_375.035"/>
Lustresultat hervor, als dem Lustwerthe der einzelnen Bedingungen
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[375/0077] pdi_375.001 5. Die Gleichförmigkeiten im Causalzusammenhang pdi_375.002 des Gefühlslebens und einige aus ihnen pdi_375.003 stammende höhere Gesetze der Poetik. pdi_375.004   Wir betrachteten, wie aus einzelnen Classen von Ante pdi_375.005 cedenzien einzelne Gefühlskreise entstehen. Diese elementaren pdi_375.006 Gefühle stehen nun aber in Verhältnissen zu einander. Wie pdi_375.007 Empfindungen als Vorstellungen reproducirt werden, so pdi_375.008 werden auch Gefühle zurückgerufen. Und da diese Gefühle pdi_375.009 in Antriebe übergehen können, liegt in ihnen selber eine Ursache pdi_375.010 der Veränderung. Aus diesen drei Causalverhältnissen pdi_375.011 entspringen Gesetze der ästhetischen Wirkung und des ästhetischen pdi_375.012 Schaffens, die hier für die Poetik zu begründen sind. pdi_375.013   Die Art, wie elementare Gefühle sich verbinden, ist pdi_375.014 von der verschieden, in welcher Empfindungen oder Vorstellungen pdi_375.015 sich verknüpfen. Unsere Gefühle verschmelzen in der Unterschiedslosigkeit pdi_375.016 des Gemein-, des Lebensgefühls, wo sie nicht von den pdi_375.017 Vorstellungen auseinandergehalten werden. Indem Lustgefühle pdi_375.018 von ganz verschiedenen Antecedenzien und verschiedenem Charakter pdi_375.019 durch einen Gegenstand angeregt werden, wächst die pdi_375.020 Stärke der Lust; indem also aus den dargestellten Gefühls pdi_375.021 kreisen ästhetisches Gefallen am einzelnen Klang, an der Ton pdi_375.022 folge, am Rhythmus, an der Verknüpfung der Bilder zur Ein pdi_375.023 heit und an der Mächtigkeit derselben zusammentreten, entsteht pdi_375.024 eine Stärke des Totaleffectes, die wir wie eine Einheit fühlen. Es pdi_375.025 ist höchst bemerkenswerth, wie an sich kleine Wirkungen des pdi_375.026 Einzelklangs, des Reims, des Rhythmus einen erheblichen poetischen pdi_375.027 Effect, in der Verbindung mit ästhetischen Wirkungen aus pdi_375.028 dem Inhalt, hervorbringen. Löst man das schönste Gedicht in pdi_375.029 Prosa auf, so ist seine ästhetische Wirkung beinahe verloren. pdi_375.030 Hieraus hat Fechner das folgende ästhetische Princip ableiten zu pdi_375.031 dürfen geglaubt, welches dann freilich ein sehr auffälliges psychologisches pdi_375.032 Gesetz zum Hintergrunde haben würde. (I 50) „Aus pdi_375.033 dem widerspruchslosen Zusammentreffen von Lustbedingungen, pdi_375.034 die für sich wenig leisten, geht ein grösseres, oft viel grösseres pdi_375.035 Lustresultat hervor, als dem Lustwerthe der einzelnen Bedingungen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/77
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/77>, abgerufen am 25.11.2024.