Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_390.001 pdi_390.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0092" n="390"/><lb n="pdi_390.001"/> versagt in Folge von Schwäche und krankhafter Erregung in <lb n="pdi_390.002"/> der Geistesstörung die normale Leistung dieses Apparats. Reizungserscheinungen, <lb n="pdi_390.003"/> wie die Hallucinationen, die an sich vom <lb n="pdi_390.004"/> Bewusstsein ihres subjectiven Ursprungs begleitet sein können, <lb n="pdi_390.005"/> erhalten nun, da jener grosse Regulirungsapparat versagt, den <lb n="pdi_390.006"/> Charakter der Wirklichkeit und werden die Unterlage von <lb n="pdi_390.007"/> Wahnideen. Pathologische Veränderungen des Gemeingefühls, <lb n="pdi_390.008"/> krankhafte Minderungen oder Steigerungen desselben, welche <lb n="pdi_390.009"/> sonst von dem erworbenen Zusammenhang der Werthbestimmungen <lb n="pdi_390.010"/> aus regulirt und in ihrem subjectiven Ursprung erkannt <lb n="pdi_390.011"/> werden, treten jetzt aus dieser Controle heraus und werden <lb n="pdi_390.012"/> ebenfalls Unterlage von Wahnideen. Und nun entstehen, zumal <lb n="pdi_390.013"/> wenn das Gedächtniss lückenhaft wird, jene Deutungen und <lb n="pdi_390.014"/> Schlüsse, die von den pathologischen Veränderungen des Gemeingefühls <lb n="pdi_390.015"/> eingegeben und von Hallucinationen gestützt sind, <lb n="pdi_390.016"/> und die nun nicht mehr vom erworbenen Zusammenhang des <lb n="pdi_390.017"/> Seelenlebens, wie er die Wirklichkeit repräsentirt und mit ihr in <lb n="pdi_390.018"/> Harmonie ist, regulirt werden. Wer kennt nicht den grübelnden <lb n="pdi_390.019"/> Scharfsinn des Irren, der auf solchen Grundlagen in logisch <lb n="pdi_390.020"/> richtigen Formen seine Wahnideen beweist? Man hat sich gewöhnt, <lb n="pdi_390.021"/> das Denken in dem Sinne logischen Schliessens als <lb n="pdi_390.022"/> höchste Leistung der Intelligenz zu betrachten. Die metaphysische <lb n="pdi_390.023"/> Philosophie mit ihrem Cultus der Vernunft im Sinne des abstracten <lb n="pdi_390.024"/> Denkens hat auch hier ihren Einfluss geübt. Es <lb n="pdi_390.025"/> nimmt dann Wunder, so viel Fähigkeit des Schliessens in einem <lb n="pdi_390.026"/> zerrütteten Seelenleben erhalten zu sehen. Der Schluss ist ein <lb n="pdi_390.027"/> Vorgang, durch welchen ich das, was direct nicht mit einander <lb n="pdi_390.028"/> verglichen oder auf einander bezogen werden kann, mittelbar <lb n="pdi_390.029"/> durch ein Zwischenglied zur Vergleichung oder Beziehung bringe. <lb n="pdi_390.030"/> Rechnet man in die Leistung des Schlusses die Auffindung des <lb n="pdi_390.031"/> Zwischengliedes, so kann ein materiell richtiger Schluss die höchste <lb n="pdi_390.032"/> Leistung des Seelenlebens, die Wirksamkeit des ganzen erworbenen <lb n="pdi_390.033"/> Zusammenhangs beanspruchen. Aber das ist gerade am <lb n="pdi_390.034"/> Irren bemerkbar, dass er stoffarme Schlüsse bildet, dass also <lb n="pdi_390.035"/> weder die Verknüpfung von Subject und Prädicat im Schlusssatz <lb n="pdi_390.036"/> der Controle des erworbenen seelischen Zusammenhangs unterworfen </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [390/0092]
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versagt in Folge von Schwäche und krankhafter Erregung in pdi_390.002
der Geistesstörung die normale Leistung dieses Apparats. Reizungserscheinungen, pdi_390.003
wie die Hallucinationen, die an sich vom pdi_390.004
Bewusstsein ihres subjectiven Ursprungs begleitet sein können, pdi_390.005
erhalten nun, da jener grosse Regulirungsapparat versagt, den pdi_390.006
Charakter der Wirklichkeit und werden die Unterlage von pdi_390.007
Wahnideen. Pathologische Veränderungen des Gemeingefühls, pdi_390.008
krankhafte Minderungen oder Steigerungen desselben, welche pdi_390.009
sonst von dem erworbenen Zusammenhang der Werthbestimmungen pdi_390.010
aus regulirt und in ihrem subjectiven Ursprung erkannt pdi_390.011
werden, treten jetzt aus dieser Controle heraus und werden pdi_390.012
ebenfalls Unterlage von Wahnideen. Und nun entstehen, zumal pdi_390.013
wenn das Gedächtniss lückenhaft wird, jene Deutungen und pdi_390.014
Schlüsse, die von den pathologischen Veränderungen des Gemeingefühls pdi_390.015
eingegeben und von Hallucinationen gestützt sind, pdi_390.016
und die nun nicht mehr vom erworbenen Zusammenhang des pdi_390.017
Seelenlebens, wie er die Wirklichkeit repräsentirt und mit ihr in pdi_390.018
Harmonie ist, regulirt werden. Wer kennt nicht den grübelnden pdi_390.019
Scharfsinn des Irren, der auf solchen Grundlagen in logisch pdi_390.020
richtigen Formen seine Wahnideen beweist? Man hat sich gewöhnt, pdi_390.021
das Denken in dem Sinne logischen Schliessens als pdi_390.022
höchste Leistung der Intelligenz zu betrachten. Die metaphysische pdi_390.023
Philosophie mit ihrem Cultus der Vernunft im Sinne des abstracten pdi_390.024
Denkens hat auch hier ihren Einfluss geübt. Es pdi_390.025
nimmt dann Wunder, so viel Fähigkeit des Schliessens in einem pdi_390.026
zerrütteten Seelenleben erhalten zu sehen. Der Schluss ist ein pdi_390.027
Vorgang, durch welchen ich das, was direct nicht mit einander pdi_390.028
verglichen oder auf einander bezogen werden kann, mittelbar pdi_390.029
durch ein Zwischenglied zur Vergleichung oder Beziehung bringe. pdi_390.030
Rechnet man in die Leistung des Schlusses die Auffindung des pdi_390.031
Zwischengliedes, so kann ein materiell richtiger Schluss die höchste pdi_390.032
Leistung des Seelenlebens, die Wirksamkeit des ganzen erworbenen pdi_390.033
Zusammenhangs beanspruchen. Aber das ist gerade am pdi_390.034
Irren bemerkbar, dass er stoffarme Schlüsse bildet, dass also pdi_390.035
weder die Verknüpfung von Subject und Prädicat im Schlusssatz pdi_390.036
der Controle des erworbenen seelischen Zusammenhangs unterworfen
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