Menschen erwarten, und manchmal von denen am wenigsten, die sie sich zu verschaffen am meisten be- müht sind. Dies wundert mich gar nicht mehr, (wenn ich es sagen darf,) da ich den Menschen an mir selbst habe suchen näher kennen zu lernen. Un- sere Ueberzeugung und Nichtüberzeugung hängt von so vielen Zufälligkeiten ab, daß ich, um doch ein Beyspiel zu geben, bey schlechter Verdauung oft noch etwas bezweifele, wovon ich bey besserm Befinden und größerer Heiterkeit, vollig überzeugt bin. Daß die Juden ihre Kinder mit ungleich größerm Fleiße in ihrer Religion erziehen, als die Christen nach Maß- gabe, bedarf, denk ich, nicht erst erwiesen werden. Meinetwegen mögen's alles Vorurtheile seyn, wo- rinn sie dieselben von Kindesbeinen an zu bestärken su- chen; so viel ist doch wohl ausgemacht, daß dergleichen so tief eingedrungene Vorurtheile höchst schwer auszu- rotten sind, und bey einigen Subjecten ist es, nach ihrer Lage, schlechtweg unmöglich. Wir haben so viele Christen, die ein beredter und gelehrter Jude so sehr in die Enge treiben könnte, der Messias sey noch nicht gekommen, daß sie ihn nicht widerlegen könnten; aber Juden würden sie deswegen gewiß nicht werden. Der Jude hätte eben so sehr ein Recht, den Christen deswegen halsstarrig zu nennen, als
wir
Menſchen erwarten, und manchmal von denen am wenigſten, die ſie ſich zu verſchaffen am meiſten be- muͤht ſind. Dies wundert mich gar nicht mehr, (wenn ich es ſagen darf,) da ich den Menſchen an mir ſelbſt habe ſuchen naͤher kennen zu lernen. Un- ſere Ueberzeugung und Nichtuͤberzeugung haͤngt von ſo vielen Zufaͤlligkeiten ab, daß ich, um doch ein Beyſpiel zu geben, bey ſchlechter Verdauung oft noch etwas bezweifele, wovon ich bey beſſerm Befinden und groͤßerer Heiterkeit, vollig uͤberzeugt bin. Daß die Juden ihre Kinder mit ungleich groͤßerm Fleiße in ihrer Religion erziehen, als die Chriſten nach Maß- gabe, bedarf, denk ich, nicht erſt erwieſen werden. Meinetwegen moͤgen’s alles Vorurtheile ſeyn, wo- rinn ſie dieſelben von Kindesbeinen an zu beſtaͤrken ſu- chen; ſo viel iſt doch wohl ausgemacht, daß dergleichen ſo tief eingedrungene Vorurtheile hoͤchſt ſchwer auszu- rotten ſind, und bey einigen Subjecten iſt es, nach ihrer Lage, ſchlechtweg unmoͤglich. Wir haben ſo viele Chriſten, die ein beredter und gelehrter Jude ſo ſehr in die Enge treiben koͤnnte, der Meſſias ſey noch nicht gekommen, daß ſie ihn nicht widerlegen koͤnnten; aber Juden wuͤrden ſie deswegen gewiß nicht werden. Der Jude haͤtte eben ſo ſehr ein Recht, den Chriſten deswegen halsſtarrig zu nennen, als
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Menſchen erwarten, und manchmal von denen am
wenigſten, die ſie ſich zu verſchaffen am meiſten be-
muͤht ſind. Dies wundert mich gar nicht mehr,
(wenn ich es ſagen darf,) da ich den Menſchen an
mir ſelbſt habe ſuchen naͤher kennen zu lernen. Un-
ſere Ueberzeugung und Nichtuͤberzeugung haͤngt von
ſo vielen Zufaͤlligkeiten ab, daß ich, um doch ein
Beyſpiel zu geben, bey ſchlechter Verdauung oft noch
etwas bezweifele, wovon ich bey beſſerm Befinden
und groͤßerer Heiterkeit, vollig uͤberzeugt bin. Daß
die Juden ihre Kinder mit ungleich groͤßerm Fleiße
in ihrer Religion erziehen, als die Chriſten nach Maß-
gabe, bedarf, denk ich, nicht erſt erwieſen werden.
Meinetwegen moͤgen’s alles Vorurtheile ſeyn, wo-
rinn ſie dieſelben von Kindesbeinen an zu beſtaͤrken ſu-
chen; ſo viel iſt doch wohl ausgemacht, daß dergleichen
ſo tief eingedrungene Vorurtheile hoͤchſt ſchwer auszu-
rotten ſind, und bey einigen Subjecten iſt es, nach
ihrer Lage, ſchlechtweg unmoͤglich. Wir haben ſo
viele Chriſten, die ein beredter und gelehrter Jude
ſo ſehr in die Enge treiben koͤnnte, der Meſſias ſey
noch nicht gekommen, daß ſie ihn nicht widerlegen
koͤnnten; aber Juden wuͤrden ſie deswegen gewiß
nicht werden. Der Jude haͤtte eben ſo ſehr ein Recht,
den Chriſten deswegen halsſtarrig zu nennen, als
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Dohm, Christian Conrad Wilhelm von: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. T. 2. Berlin u. a., 1783, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dohm_juden02_1783/103>, abgerufen am 24.11.2024.
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