Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.

Bild:
<< vorherige Seite
Der kranke Aar.
Am dürren Baum, im fetten Wiesengras
Ein Stier behaglich wiederkäut' den Fraß;
Auf niederm Ast ein wunder Adler saß,
Ein kranker Aar mit gebrochnen Schwingen.
"Steig' auf, mein Vogel, in die blaue Luft,
Ich schau dir nach aus meinem Kräuterduft." --
"Weh, weh, umsonst die Sonne ruft
Den kranken Aar mit gebrochnen Schwingen!" --
"O Vogel, warst so stolz und freventlich
Und wolltest keine Fessel ewiglich!" --
"Weh, weh, zu Viele über mich,
Und Adler all, -- brachen mir die Schwingen!"
"So flattre in dein Nest, vom Aste fort,
Dein Aechzen schier die Kräuter mir verdorrt."
"Weh, weh, kein Nest hab' ich hinfort,
Verbannter Aar mit gebrochnen Schwingen!"
"O Vogel, wärst du eine Henne doch,
Dein Nestchen hättest du, im Ofenloch."
"Weh, weh, viel lieber ein Adler noch,
Viel lieber ein Aar mit gebrochnen Schwingen!"

Der kranke Aar.
Am dürren Baum, im fetten Wieſengras
Ein Stier behaglich wiederkäut' den Fraß;
Auf niederm Aſt ein wunder Adler ſaß,
Ein kranker Aar mit gebrochnen Schwingen.
„Steig' auf, mein Vogel, in die blaue Luft,
Ich ſchau dir nach aus meinem Kräuterduft.“ —
„Weh, weh, umſonſt die Sonne ruft
Den kranken Aar mit gebrochnen Schwingen!“ —
„O Vogel, warſt ſo ſtolz und freventlich
Und wollteſt keine Feſſel ewiglich!“ —
„Weh, weh, zu Viele über mich,
Und Adler all, — brachen mir die Schwingen!“
„So flattre in dein Neſt, vom Aſte fort,
Dein Aechzen ſchier die Kräuter mir verdorrt.“
„Weh, weh, kein Neſt hab' ich hinfort,
Verbannter Aar mit gebrochnen Schwingen!“
„O Vogel, wärſt du eine Henne doch,
Dein Neſtchen hätteſt du, im Ofenloch.“
„Weh, weh, viel lieber ein Adler noch,
Viel lieber ein Aar mit gebrochnen Schwingen!“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0208" n="194"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Der kranke Aar.</hi><lb/>
          </head>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>Am dürren Baum, im fetten Wie&#x017F;engras</l><lb/>
              <l>Ein Stier behaglich wiederkäut' den Fraß;</l><lb/>
              <l>Auf niederm A&#x017F;t ein wunder Adler &#x017F;aß,</l><lb/>
              <l>Ein kranker Aar mit gebrochnen Schwingen.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="2">
              <l>&#x201E;Steig' auf, mein Vogel, in die blaue Luft,</l><lb/>
              <l>Ich &#x017F;chau dir nach aus meinem Kräuterduft.&#x201C; &#x2014;</l><lb/>
              <l>&#x201E;Weh, weh, um&#x017F;on&#x017F;t die Sonne ruft</l><lb/>
              <l>Den kranken Aar mit gebrochnen Schwingen!&#x201C; &#x2014;</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="3">
              <l>&#x201E;O Vogel, war&#x017F;t &#x017F;o &#x017F;tolz und freventlich</l><lb/>
              <l>Und wollte&#x017F;t keine Fe&#x017F;&#x017F;el ewiglich!&#x201C; &#x2014;</l><lb/>
              <l>&#x201E;Weh, weh, zu Viele über mich,</l><lb/>
              <l>Und Adler all, &#x2014; brachen mir die Schwingen!&#x201C;</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="4">
              <l>&#x201E;So flattre in dein Ne&#x017F;t, vom A&#x017F;te fort,</l><lb/>
              <l>Dein Aechzen &#x017F;chier die Kräuter mir verdorrt.&#x201C;</l><lb/>
              <l>&#x201E;Weh, weh, kein Ne&#x017F;t hab' ich hinfort,</l><lb/>
              <l>Verbannter Aar mit gebrochnen Schwingen!&#x201C;</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="5">
              <l>&#x201E;O Vogel, wär&#x017F;t du eine Henne doch,</l><lb/>
              <l>Dein Ne&#x017F;tchen hätte&#x017F;t du, im Ofenloch.&#x201C;</l><lb/>
              <l>&#x201E;Weh, weh, viel lieber ein Adler noch,</l><lb/>
              <l>Viel lieber ein Aar mit gebrochnen Schwingen!&#x201C;</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[194/0208] Der kranke Aar. Am dürren Baum, im fetten Wieſengras Ein Stier behaglich wiederkäut' den Fraß; Auf niederm Aſt ein wunder Adler ſaß, Ein kranker Aar mit gebrochnen Schwingen. „Steig' auf, mein Vogel, in die blaue Luft, Ich ſchau dir nach aus meinem Kräuterduft.“ — „Weh, weh, umſonſt die Sonne ruft Den kranken Aar mit gebrochnen Schwingen!“ — „O Vogel, warſt ſo ſtolz und freventlich Und wollteſt keine Feſſel ewiglich!“ — „Weh, weh, zu Viele über mich, Und Adler all, — brachen mir die Schwingen!“ „So flattre in dein Neſt, vom Aſte fort, Dein Aechzen ſchier die Kräuter mir verdorrt.“ „Weh, weh, kein Neſt hab' ich hinfort, Verbannter Aar mit gebrochnen Schwingen!“ „O Vogel, wärſt du eine Henne doch, Dein Neſtchen hätteſt du, im Ofenloch.“ „Weh, weh, viel lieber ein Adler noch, Viel lieber ein Aar mit gebrochnen Schwingen!“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/208
Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/208>, abgerufen am 24.11.2024.