Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite
Hat schon der Hahn gekräht? ich hab's verfehlt;
Oft schlaf' ich fest, wenn mich der Schmerz gequält.
Ob schon die Dämmrung steigt, ich seh' es nicht,
Mir fährt's wie Spinneweben am Gesicht;
Doch dünkt mich, hör' im Walde ich Gebimmel
Und Peitschenknall; was das für Fäden sind,
Die mir am Auge schwimmen? lieber Himmel,
Ich bin nicht halb, ich bin beinah' schon blind.
Hier ist der Steg am Anger, weiter will
Ich mich nicht wagen, hier ist Alles still,
Und Thau genug für Kranke allzumal
Des ganzen Weilers, eh' der Sonnenstrahl
Mit seinem scharfen Finger ihn gestrichen
Und aufgesogen ihn der Morgenwind;
Doch ist kein Zweiter wohl hieher geschlichen;
Denn, Gott sei Dank, nur Wenige sind blind.
Das ist ein Büschel -- nein -- doch das ist Gras,
Ich fühle meine Finger kalt und naß;
Johannes, heiliger Prophet, ich kam
In deinem werthen Namen her und nahm
Von jenem Thaue, den im Wüstenbrande
Die Wolke dir geträufelt, lau und lind,
Daß nicht dein Auge in dem heißen Sande,
Nicht dein gesegnet Auge werde blind.
Hat ſchon der Hahn gekräht? ich hab’s verfehlt;
Oft ſchlaf’ ich feſt, wenn mich der Schmerz gequält.
Ob ſchon die Dämmrung ſteigt, ich ſeh’ es nicht,
Mir fährt’s wie Spinneweben am Geſicht;
Doch dünkt mich, hör’ im Walde ich Gebimmel
Und Peitſchenknall; was das für Fäden ſind,
Die mir am Auge ſchwimmen? lieber Himmel,
Ich bin nicht halb, ich bin beinah’ ſchon blind.
Hier iſt der Steg am Anger, weiter will
Ich mich nicht wagen, hier iſt Alles ſtill,
Und Thau genug für Kranke allzumal
Des ganzen Weilers, eh’ der Sonnenſtrahl
Mit ſeinem ſcharfen Finger ihn geſtrichen
Und aufgeſogen ihn der Morgenwind;
Doch iſt kein Zweiter wohl hieher geſchlichen;
Denn, Gott ſei Dank, nur Wenige ſind blind.
Das iſt ein Büſchel — nein — doch das iſt Gras,
Ich fühle meine Finger kalt und naß;
Johannes, heiliger Prophet, ich kam
In deinem werthen Namen her und nahm
Von jenem Thaue, den im Wüſtenbrande
Die Wolke dir geträufelt, lau und lind,
Daß nicht dein Auge in dem heißen Sande,
Nicht dein geſegnet Auge werde blind.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <lg type="poem">
              <pb facs="#f0117" n="101"/>
              <lg n="3">
                <l>Hat &#x017F;chon der Hahn gekräht? ich hab&#x2019;s verfehlt;</l><lb/>
                <l>Oft &#x017F;chlaf&#x2019; ich fe&#x017F;t, wenn mich der Schmerz gequält.</l><lb/>
                <l>Ob &#x017F;chon die Dämmrung &#x017F;teigt, ich &#x017F;eh&#x2019; es nicht,</l><lb/>
                <l>Mir fährt&#x2019;s wie Spinneweben am Ge&#x017F;icht;</l><lb/>
                <l>Doch dünkt mich, hör&#x2019; im Walde ich Gebimmel</l><lb/>
                <l>Und Peit&#x017F;chenknall; was das für Fäden &#x017F;ind,</l><lb/>
                <l>Die mir am Auge &#x017F;chwimmen? lieber Himmel,</l><lb/>
                <l>Ich bin nicht halb, ich bin beinah&#x2019; &#x017F;chon blind.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="4">
                <l>Hier i&#x017F;t der Steg am Anger, weiter will</l><lb/>
                <l>Ich mich nicht wagen, hier i&#x017F;t Alles &#x017F;till,</l><lb/>
                <l>Und Thau genug für Kranke allzumal</l><lb/>
                <l>Des ganzen Weilers, eh&#x2019; der Sonnen&#x017F;trahl</l><lb/>
                <l>Mit &#x017F;einem &#x017F;charfen Finger ihn ge&#x017F;trichen</l><lb/>
                <l>Und aufge&#x017F;ogen ihn der Morgenwind;</l><lb/>
                <l>Doch i&#x017F;t kein Zweiter wohl hieher ge&#x017F;chlichen;</l><lb/>
                <l>Denn, Gott &#x017F;ei Dank, nur Wenige &#x017F;ind blind.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="5">
                <l>Das i&#x017F;t ein Bü&#x017F;chel &#x2014; nein &#x2014; doch <hi rendition="#g">das</hi> i&#x017F;t Gras,</l><lb/>
                <l>Ich fühle meine Finger kalt und naß;</l><lb/>
                <l>Johannes, heiliger Prophet, ich kam</l><lb/>
                <l>In deinem werthen Namen her und nahm</l><lb/>
                <l>Von jenem Thaue, den im Wü&#x017F;tenbrande</l><lb/>
                <l>Die Wolke dir geträufelt, lau und lind,</l><lb/>
                <l>Daß nicht dein Auge in dem heißen Sande,</l><lb/>
                <l>Nicht dein ge&#x017F;egnet Auge werde blind.</l>
              </lg><lb/>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0117] Hat ſchon der Hahn gekräht? ich hab’s verfehlt; Oft ſchlaf’ ich feſt, wenn mich der Schmerz gequält. Ob ſchon die Dämmrung ſteigt, ich ſeh’ es nicht, Mir fährt’s wie Spinneweben am Geſicht; Doch dünkt mich, hör’ im Walde ich Gebimmel Und Peitſchenknall; was das für Fäden ſind, Die mir am Auge ſchwimmen? lieber Himmel, Ich bin nicht halb, ich bin beinah’ ſchon blind. Hier iſt der Steg am Anger, weiter will Ich mich nicht wagen, hier iſt Alles ſtill, Und Thau genug für Kranke allzumal Des ganzen Weilers, eh’ der Sonnenſtrahl Mit ſeinem ſcharfen Finger ihn geſtrichen Und aufgeſogen ihn der Morgenwind; Doch iſt kein Zweiter wohl hieher geſchlichen; Denn, Gott ſei Dank, nur Wenige ſind blind. Das iſt ein Büſchel — nein — doch das iſt Gras, Ich fühle meine Finger kalt und naß; Johannes, heiliger Prophet, ich kam In deinem werthen Namen her und nahm Von jenem Thaue, den im Wüſtenbrande Die Wolke dir geträufelt, lau und lind, Daß nicht dein Auge in dem heißen Sande, Nicht dein geſegnet Auge werde blind.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schü… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/117
Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/117>, abgerufen am 23.11.2024.