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Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.

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-- kurz, ein Fleck, wie es deren sonst so viele in
Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tu-
genden, all der Originalität und Beschränktheit,
wie sie nur in solchen Zuständen gedeihen.

Unter höchst einfachen und häufig unzuläng-
lichen Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner
von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung
gerathen, oder vielmehr es hatte sich neben dem
gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der
öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch
Vernachlässigung entstandenen Verjährung. Die
Gutsbesitzer, denen die niedrige Gerichtsbarkeit zustand,
straften und belohnten nach ihrer in den meisten
Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene that,
was ihm ausführbar und mit einem etwas weiteren
Gewissen verträglich schien, und nur dem Verlie-
renden fiel es zuweilen ein, in alten staubigten
Urkunden nachzuschlagen. -- Es ist schwer, jene
Zeit unparteiisch ins Auge zu fassen; sie ist seit
ihrem Verschwinden entweder hochmüthig getadelt
oder albern gelobt worden, da den, der sie erlebte,
zu viel theure Erinnerungen blenden und der
Spätergeborene sie nicht begreift. So viel darf
man indessen behaupten, daß die Form schwächer,
der Kern fester, Vergehen häufiger, Gewissenlosigkeit
seltener waren. Denn wer nach seiner Ueberzeugung
handelt, und sei sie noch so mangelhaft, kann nie

— kurz, ein Fleck, wie es deren ſonſt ſo viele in
Deutſchland gab, mit all den Mängeln und Tu-
genden, all der Originalität und Beſchränktheit,
wie ſie nur in ſolchen Zuſtänden gedeihen.

Unter höchſt einfachen und häufig unzuläng-
lichen Geſetzen waren die Begriffe der Einwohner
von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung
gerathen, oder vielmehr es hatte ſich neben dem
geſetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der
öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch
Vernachläſſigung entſtandenen Verjährung. Die
Gutsbeſitzer, denen die niedrige Gerichtsbarkeit zuſtand,
ſtraften und belohnten nach ihrer in den meiſten
Fällen redlichen Einſicht; der Untergebene that,
was ihm ausführbar und mit einem etwas weiteren
Gewiſſen verträglich ſchien, und nur dem Verlie-
renden fiel es zuweilen ein, in alten ſtaubigten
Urkunden nachzuſchlagen. — Es iſt ſchwer, jene
Zeit unparteiiſch ins Auge zu faſſen; ſie iſt ſeit
ihrem Verſchwinden entweder hochmüthig getadelt
oder albern gelobt worden, da den, der ſie erlebte,
zu viel theure Erinnerungen blenden und der
Spätergeborene ſie nicht begreift. So viel darf
man indeſſen behaupten, daß die Form ſchwächer,
der Kern feſter, Vergehen häufiger, Gewiſſenloſigkeit
ſeltener waren. Denn wer nach ſeiner Ueberzeugung
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[146/0162] — kurz, ein Fleck, wie es deren ſonſt ſo viele in Deutſchland gab, mit all den Mängeln und Tu- genden, all der Originalität und Beſchränktheit, wie ſie nur in ſolchen Zuſtänden gedeihen. Unter höchſt einfachen und häufig unzuläng- lichen Geſetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung gerathen, oder vielmehr es hatte ſich neben dem geſetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachläſſigung entſtandenen Verjährung. Die Gutsbeſitzer, denen die niedrige Gerichtsbarkeit zuſtand, ſtraften und belohnten nach ihrer in den meiſten Fällen redlichen Einſicht; der Untergebene that, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiteren Gewiſſen verträglich ſchien, und nur dem Verlie- renden fiel es zuweilen ein, in alten ſtaubigten Urkunden nachzuſchlagen. — Es iſt ſchwer, jene Zeit unparteiiſch ins Auge zu faſſen; ſie iſt ſeit ihrem Verſchwinden entweder hochmüthig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der ſie erlebte, zu viel theure Erinnerungen blenden und der Spätergeborene ſie nicht begreift. So viel darf man indeſſen behaupten, daß die Form ſchwächer, der Kern feſter, Vergehen häufiger, Gewiſſenloſigkeit ſeltener waren. Denn wer nach ſeiner Ueberzeugung handelt, und ſei ſie noch ſo mangelhaft, kann nie

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Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/162>, abgerufen am 23.11.2024.