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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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"Naturgesetze", über die "geistigen Gesetze", über den Vorzug der
intellectuellen gegen die moralischen Kräfte u. s. w. folgen. Das Er-
gebniss seiner Betrachtungen im ersten Theil resumirt er im Anfang
des zweiten in folgenden vier "Hauptgedanken", die nach seiner An-
sicht für die Grundlagen einer Geschichte der Civilisation gelten
müssen. "1. Der Fortschritt des Menschengeschlechts beruht auf dem
Erfolg, womit die Gesetze der Erscheinungen erforscht und auf dem
Umfang, bis zu welchem diese Kenntnisse verbreitet werden. 2. Bevor
eine solche Forschung beginnen kann, muss sich ein Geist des Scepti-
cismus erzeugen, welcher zuerst die Forschung fordert und dann von
ihr gefordert wird. 3. Die Entdeckungen, die auf diese Weise gemacht
werden, stärken den Einfluss intellectueller Wahrheiten und schwächen
beziehungsweise, nicht unbedingt, den Einfluss sittlicher Wahrheiten,
diese entwickeln sich weniger und erhalten weniger Zuwachs als die
intellectuellen Wahrheiten. 4. Der Hauptfeind dieser Bewegung und
folglich der Hauptfeind der Civilisation ist der bevormundende Geist;
darunter verstehe ich die Vorstellung, die menschliche Gesellschaft
könne nicht gedeihen, wenn ihre Angelegenheiten nicht auf Schritt
und Tritt von Staat und Kirche bewacht und behütet werden, wo dann
der Staat die Menschen lehre, was sie zu thun, die Kirche, was sie
zu glauben haben."

Wenn das die Gesetze sind, in denen "das Studium der Geschichte
der Menschheit" seine wissenschaftliche Höhe erreicht haben soll, so
ist der glückliche Finder in der Naivität, mit der er sich über ihre
ausserordentliche Seichtigkeit auch nur einen einzigen Augenblick hat
täuschen können, wahrhaft beneidenswerth. Gesetze von dieser Sorte
könnte man täglich zu Dutzenden und zwar auf demselben Wege der
Verallgemeinerung finden, Gesetze, von denen keins an Tiefsinn und
Fruchtbarkeit hinter dem bekannten Satz zurückbleiben sollte: dass
der Maassstab für die Civilisation eines Volkes dessen Verbrauch an
Seife sei.

Baco sagt einmal: citius emergit veritas ex errore, quam ex con-
fusione. Die confusion, deren sich Buckle schuldig macht, liegt auf
der Hand. Weil er die Natur der Dinge, mit denen er sich zu be-
schäftigen unternahm, zu untersuchen und zu ergründen unterlassen
hat, so verfährt er mit ihnen, als ob sie überhaupt eine eigene Natur

„Naturgesetze“, über die „geistigen Gesetze“, über den Vorzug der
intellectuellen gegen die moralischen Kräfte u. s. w. folgen. Das Er-
gebniss seiner Betrachtungen im ersten Theil resumirt er im Anfang
des zweiten in folgenden vier „Hauptgedanken“, die nach seiner An-
sicht für die Grundlagen einer Geschichte der Civilisation gelten
müssen. „1. Der Fortschritt des Menschengeschlechts beruht auf dem
Erfolg, womit die Gesetze der Erscheinungen erforscht und auf dem
Umfang, bis zu welchem diese Kenntnisse verbreitet werden. 2. Bevor
eine solche Forschung beginnen kann, muss sich ein Geist des Scepti-
cismus erzeugen, welcher zuerst die Forschung fordert und dann von
ihr gefordert wird. 3. Die Entdeckungen, die auf diese Weise gemacht
werden, stärken den Einfluss intellectueller Wahrheiten und schwächen
beziehungsweise, nicht unbedingt, den Einfluss sittlicher Wahrheiten,
diese entwickeln sich weniger und erhalten weniger Zuwachs als die
intellectuellen Wahrheiten. 4. Der Hauptfeind dieser Bewegung und
folglich der Hauptfeind der Civilisation ist der bevormundende Geist;
darunter verstehe ich die Vorstellung, die menschliche Gesellschaft
könne nicht gedeihen, wenn ihre Angelegenheiten nicht auf Schritt
und Tritt von Staat und Kirche bewacht und behütet werden, wo dann
der Staat die Menschen lehre, was sie zu thun, die Kirche, was sie
zu glauben haben.“

Wenn das die Gesetze sind, in denen „das Studium der Geschichte
der Menschheit“ seine wissenschaftliche Höhe erreicht haben soll, so
ist der glückliche Finder in der Naivität, mit der er sich über ihre
ausserordentliche Seichtigkeit auch nur einen einzigen Augenblick hat
täuschen können, wahrhaft beneidenswerth. Gesetze von dieser Sorte
könnte man täglich zu Dutzenden und zwar auf demselben Wege der
Verallgemeinerung finden, Gesetze, von denen keins an Tiefsinn und
Fruchtbarkeit hinter dem bekannten Satz zurückbleiben sollte: dass
der Maassstab für die Civilisation eines Volkes dessen Verbrauch an
Seife sei.

Baco sagt einmal: citius emergit veritas ex errore, quam ex con-
fusione. Die confusion, deren sich Buckle schuldig macht, liegt auf
der Hand. Weil er die Natur der Dinge, mit denen er sich zu be-
schäftigen unternahm, zu untersuchen und zu ergründen unterlassen
hat, so verfährt er mit ihnen, als ob sie überhaupt eine eigene Natur

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[55/0064] „Naturgesetze“, über die „geistigen Gesetze“, über den Vorzug der intellectuellen gegen die moralischen Kräfte u. s. w. folgen. Das Er- gebniss seiner Betrachtungen im ersten Theil resumirt er im Anfang des zweiten in folgenden vier „Hauptgedanken“, die nach seiner An- sicht für die Grundlagen einer Geschichte der Civilisation gelten müssen. „1. Der Fortschritt des Menschengeschlechts beruht auf dem Erfolg, womit die Gesetze der Erscheinungen erforscht und auf dem Umfang, bis zu welchem diese Kenntnisse verbreitet werden. 2. Bevor eine solche Forschung beginnen kann, muss sich ein Geist des Scepti- cismus erzeugen, welcher zuerst die Forschung fordert und dann von ihr gefordert wird. 3. Die Entdeckungen, die auf diese Weise gemacht werden, stärken den Einfluss intellectueller Wahrheiten und schwächen beziehungsweise, nicht unbedingt, den Einfluss sittlicher Wahrheiten, diese entwickeln sich weniger und erhalten weniger Zuwachs als die intellectuellen Wahrheiten. 4. Der Hauptfeind dieser Bewegung und folglich der Hauptfeind der Civilisation ist der bevormundende Geist; darunter verstehe ich die Vorstellung, die menschliche Gesellschaft könne nicht gedeihen, wenn ihre Angelegenheiten nicht auf Schritt und Tritt von Staat und Kirche bewacht und behütet werden, wo dann der Staat die Menschen lehre, was sie zu thun, die Kirche, was sie zu glauben haben.“ Wenn das die Gesetze sind, in denen „das Studium der Geschichte der Menschheit“ seine wissenschaftliche Höhe erreicht haben soll, so ist der glückliche Finder in der Naivität, mit der er sich über ihre ausserordentliche Seichtigkeit auch nur einen einzigen Augenblick hat täuschen können, wahrhaft beneidenswerth. Gesetze von dieser Sorte könnte man täglich zu Dutzenden und zwar auf demselben Wege der Verallgemeinerung finden, Gesetze, von denen keins an Tiefsinn und Fruchtbarkeit hinter dem bekannten Satz zurückbleiben sollte: dass der Maassstab für die Civilisation eines Volkes dessen Verbrauch an Seife sei. Baco sagt einmal: citius emergit veritas ex errore, quam ex con- fusione. Die confusion, deren sich Buckle schuldig macht, liegt auf der Hand. Weil er die Natur der Dinge, mit denen er sich zu be- schäftigen unternahm, zu untersuchen und zu ergründen unterlassen hat, so verfährt er mit ihnen, als ob sie überhaupt eine eigene Natur

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/64>, abgerufen am 21.11.2024.