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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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in diese Endlichkeit, in die Vorstellungsformen, die er von ihr her ge-
wonnen und entwickelt hat, gebannt; aber nur noch mit den Fussspitzen
berührt er die Erde.

Wie nun, wenn sich die gleiche Sammlung und Kraft des Geistes
der anderen Seite seines doppelgestaltigen Seins zuwendet? Ich meine
nicht das practische Wollen und Thun des Menschen. Sein theoreti-
sches Verhalten, sein Forschen und Erkennen nach jenen Richtungen
hin wird dadurch bedingt sein, dass die sinnliche Seite seines Daseins
ihm nicht bloss das bunte Treiben der sinnlich wahrnehmbaren Einzel-
heiten wie einem unbewegten und ungetrübten Spiegel zuführt, sondern
dass er, mit ihr und durch sie, selbst inmitten dieser ihn umgebenden
und umfluthenden Endlichkeiten steht, von ihnen bedingt, bewegt, mit
umgetrieben wird, dass er selbst in dem rastlosen Staubwirbel dieser
rastlos wechselnden Endlichkeiten wie ein mit umgetriebenes Atom sein
würde, wenn er nicht kraft seines geistigen Wesens die Fähigkeit hätte,
in ihnen wie ein fester Punkt zu sein, wenigstens sich in sich selbst
als solchen zu empfinden, zu fassen, zu wissen, denkend und wollend,
mit Bewusstsein und Selbstbestimmung in wie eng umgrenzter Bahn
immer sich zu bewegen, beobachtend, berechnend, begreifend der Dinge
draussen Herr zu werden.


Dass das kleine und dürftige Menschenwesen diese Kraft des Herr-
seins hat und übt, ist zu allen Zeiten das Räthsel der Contemplation
gewesen. Mit naivem Tiefsinn sagt die Genesis: "als Gott gemacht
hatte allerlei Thiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Him-
mel, brachte er sie vor den Menschen, dass er sie sähe wie er sie nen-
nete; denn wie der Mensch sie nennen würde, so sollten sie heissen."
Die Benennung war der Anfang, der Dinge Herr zu werden. Mit dem
Namen war jedem Geschaffenen, Seienden ein geistiges Gegenbild ge-
schaffen; sie waren nicht mehr bloss in der Welt äusserlicher Existenz,
sie waren in die Vorstellung, in die Geistigkeit des mitten unter ihnen
lebenden Menschenwesens versetzt. Sie behielten jedes den gegebenen
Namen, wenn auch die Erscheinungsform für den einmal gegebenen
Namen durch Ernährung oder Erschöpfung, durch Wiederholung in der
Fortpflanzung, in je anderen Thätigkeiten anders sich darstellend, noch

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in diese Endlichkeit, in die Vorstellungsformen, die er von ihr her ge-
wonnen und entwickelt hat, gebannt; aber nur noch mit den Fussspitzen
berührt er die Erde.

Wie nun, wenn sich die gleiche Sammlung und Kraft des Geistes
der anderen Seite seines doppelgestaltigen Seins zuwendet? Ich meine
nicht das practische Wollen und Thun des Menschen. Sein theoreti-
sches Verhalten, sein Forschen und Erkennen nach jenen Richtungen
hin wird dadurch bedingt sein, dass die sinnliche Seite seines Daseins
ihm nicht bloss das bunte Treiben der sinnlich wahrnehmbaren Einzel-
heiten wie einem unbewegten und ungetrübten Spiegel zuführt, sondern
dass er, mit ihr und durch sie, selbst inmitten dieser ihn umgebenden
und umfluthenden Endlichkeiten steht, von ihnen bedingt, bewegt, mit
umgetrieben wird, dass er selbst in dem rastlosen Staubwirbel dieser
rastlos wechselnden Endlichkeiten wie ein mit umgetriebenes Atom sein
würde, wenn er nicht kraft seines geistigen Wesens die Fähigkeit hätte,
in ihnen wie ein fester Punkt zu sein, wenigstens sich in sich selbst
als solchen zu empfinden, zu fassen, zu wissen, denkend und wollend,
mit Bewusstsein und Selbstbestimmung in wie eng umgrenzter Bahn
immer sich zu bewegen, beobachtend, berechnend, begreifend der Dinge
draussen Herr zu werden.


Dass das kleine und dürftige Menschenwesen diese Kraft des Herr-
seins hat und übt, ist zu allen Zeiten das Räthsel der Contemplation
gewesen. Mit naivem Tiefsinn sagt die Genesis: „als Gott gemacht
hatte allerlei Thiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Him-
mel, brachte er sie vor den Menschen, dass er sie sähe wie er sie nen-
nete; denn wie der Mensch sie nennen würde, so sollten sie heissen.“
Die Benennung war der Anfang, der Dinge Herr zu werden. Mit dem
Namen war jedem Geschaffenen, Seienden ein geistiges Gegenbild ge-
schaffen; sie waren nicht mehr bloss in der Welt äusserlicher Existenz,
sie waren in die Vorstellung, in die Geistigkeit des mitten unter ihnen
lebenden Menschenwesens versetzt. Sie behielten jedes den gegebenen
Namen, wenn auch die Erscheinungsform für den einmal gegebenen
Namen durch Ernährung oder Erschöpfung, durch Wiederholung in der
Fortpflanzung, in je anderen Thätigkeiten anders sich darstellend, noch

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[65/0074] in diese Endlichkeit, in die Vorstellungsformen, die er von ihr her ge- wonnen und entwickelt hat, gebannt; aber nur noch mit den Fussspitzen berührt er die Erde. Wie nun, wenn sich die gleiche Sammlung und Kraft des Geistes der anderen Seite seines doppelgestaltigen Seins zuwendet? Ich meine nicht das practische Wollen und Thun des Menschen. Sein theoreti- sches Verhalten, sein Forschen und Erkennen nach jenen Richtungen hin wird dadurch bedingt sein, dass die sinnliche Seite seines Daseins ihm nicht bloss das bunte Treiben der sinnlich wahrnehmbaren Einzel- heiten wie einem unbewegten und ungetrübten Spiegel zuführt, sondern dass er, mit ihr und durch sie, selbst inmitten dieser ihn umgebenden und umfluthenden Endlichkeiten steht, von ihnen bedingt, bewegt, mit umgetrieben wird, dass er selbst in dem rastlosen Staubwirbel dieser rastlos wechselnden Endlichkeiten wie ein mit umgetriebenes Atom sein würde, wenn er nicht kraft seines geistigen Wesens die Fähigkeit hätte, in ihnen wie ein fester Punkt zu sein, wenigstens sich in sich selbst als solchen zu empfinden, zu fassen, zu wissen, denkend und wollend, mit Bewusstsein und Selbstbestimmung in wie eng umgrenzter Bahn immer sich zu bewegen, beobachtend, berechnend, begreifend der Dinge draussen Herr zu werden. Dass das kleine und dürftige Menschenwesen diese Kraft des Herr- seins hat und übt, ist zu allen Zeiten das Räthsel der Contemplation gewesen. Mit naivem Tiefsinn sagt die Genesis: „als Gott gemacht hatte allerlei Thiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Him- mel, brachte er sie vor den Menschen, dass er sie sähe wie er sie nen- nete; denn wie der Mensch sie nennen würde, so sollten sie heissen.“ Die Benennung war der Anfang, der Dinge Herr zu werden. Mit dem Namen war jedem Geschaffenen, Seienden ein geistiges Gegenbild ge- schaffen; sie waren nicht mehr bloss in der Welt äusserlicher Existenz, sie waren in die Vorstellung, in die Geistigkeit des mitten unter ihnen lebenden Menschenwesens versetzt. Sie behielten jedes den gegebenen Namen, wenn auch die Erscheinungsform für den einmal gegebenen Namen durch Ernährung oder Erschöpfung, durch Wiederholung in der Fortpflanzung, in je anderen Thätigkeiten anders sich darstellend, noch 5

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/74>, abgerufen am 24.11.2024.