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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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sen. Aus jedem Waizenkorn erwächst, wenn es nicht durch anderwei-
tige Verwendung seinem periodischen Leben (Keimung, Halmbildung,
Blüthe, Fruchtreifung) entzogen wird, ein individuell andrer Halm, eine
neue Generation von Körnern. Die Eichen in demselben Walde, jede
wie die andere aus den Eicheln vielleicht derselben Muttereiche er-
wachsen, sind individuell verschieden, nicht bloss dem Raume nach,
sondern nach Alter, Grösse, Verästung, Gruppirung der Laubmassen
u. s. w. Wir nehmen die Unterschiede wohl wahr, aber sie erscheinen
uns nicht als wesentlich; wissenschaftlich wie practisch ist uns ihre
Individualität gleichgültig; für diese Art Existenzen hat unser Geist
kein Verständniss ihres individuellen Seins, wir haben für diese Art
Individuen keinen anderen Namen als den ihrer Gattung. Wir sehen
wohl, dass sie sich verändern; aber in der nur periodischen Wiederkehr
ihres Wechsels haben sie uns keine Geschichte. Wir unterscheiden die
einzelnen wohl, aber ihre Unterschiede zeigen uns keine Folgereihe sich
in sich selbst steigernder Formungen. Wir fassen sie dem Raum, dem
Stoff, dem im Wechsel Gleichen, dem in der Vielheit sich wiederholen-
den Einerlei nach auf; denn nur in diesen Beziehungen hat unser Geist
Kategorien für sie, nur nach diesen Kategorien können wir sie fassen
und verstehen, können wir uns practisch und theoretisch zu ihnen ver-
halten. Und diesen unseren Auffassungen gemäss brauchen und ver-
brauchen wir sie; wir nehmen sie für das, was sie uns sind. Wir
säen diese Waizenkörner, pflegen diese Eichen, um sie ihrer Zeit zu
tödten und als das, was sie uns sind, als brennbaren Stoff, als mehl-
haltige Frucht, zu verbrauchen; wir züchten diese Thiere, um ihnen
täglich die für ihre Jungen sich erzeugende Milch zu rauben, sie
schliesslich zu schlachten u. s. w. Unermüdlich beobachten und for-
schen wir, das Seiende seinen Stoffen, Kräften, Gesetzen nach zu er-
kennen, um es nach den Kategorien, unter denen wir es fassen und be-
greifen können, für unsere Zwecke zu verwenden; es ist uns nur Ma-
terial; in seinen individuellen Erscheinungen ist es uns verschlossen,
unverständlich, gleichgültig.

Und wenn wir den Fruchtbaum pfropfend, Thiere züchtend,
Racen kreuzend gleichsam Vorsehung spielen, um edlere Erzeugungen
zu veranlassen, so ist es unsere List und Berechnung, nicht das indi-
viduelle Verständniss, das uns solches Ergebnis bringt. Wenn wir

sen. Aus jedem Waizenkorn erwächst, wenn es nicht durch anderwei-
tige Verwendung seinem periodischen Leben (Keimung, Halmbildung,
Blüthe, Fruchtreifung) entzogen wird, ein individuell andrer Halm, eine
neue Generation von Körnern. Die Eichen in demselben Walde, jede
wie die andere aus den Eicheln vielleicht derselben Muttereiche er-
wachsen, sind individuell verschieden, nicht bloss dem Raume nach,
sondern nach Alter, Grösse, Verästung, Gruppirung der Laubmassen
u. s. w. Wir nehmen die Unterschiede wohl wahr, aber sie erscheinen
uns nicht als wesentlich; wissenschaftlich wie practisch ist uns ihre
Individualität gleichgültig; für diese Art Existenzen hat unser Geist
kein Verständniss ihres individuellen Seins, wir haben für diese Art
Individuen keinen anderen Namen als den ihrer Gattung. Wir sehen
wohl, dass sie sich verändern; aber in der nur periodischen Wiederkehr
ihres Wechsels haben sie uns keine Geschichte. Wir unterscheiden die
einzelnen wohl, aber ihre Unterschiede zeigen uns keine Folgereihe sich
in sich selbst steigernder Formungen. Wir fassen sie dem Raum, dem
Stoff, dem im Wechsel Gleichen, dem in der Vielheit sich wiederholen-
den Einerlei nach auf; denn nur in diesen Beziehungen hat unser Geist
Kategorien für sie, nur nach diesen Kategorien können wir sie fassen
und verstehen, können wir uns practisch und theoretisch zu ihnen ver-
halten. Und diesen unseren Auffassungen gemäss brauchen und ver-
brauchen wir sie; wir nehmen sie für das, was sie uns sind. Wir
säen diese Waizenkörner, pflegen diese Eichen, um sie ihrer Zeit zu
tödten und als das, was sie uns sind, als brennbaren Stoff, als mehl-
haltige Frucht, zu verbrauchen; wir züchten diese Thiere, um ihnen
täglich die für ihre Jungen sich erzeugende Milch zu rauben, sie
schliesslich zu schlachten u. s. w. Unermüdlich beobachten und for-
schen wir, das Seiende seinen Stoffen, Kräften, Gesetzen nach zu er-
kennen, um es nach den Kategorien, unter denen wir es fassen und be-
greifen können, für unsere Zwecke zu verwenden; es ist uns nur Ma-
terial; in seinen individuellen Erscheinungen ist es uns verschlossen,
unverständlich, gleichgültig.

Und wenn wir den Fruchtbaum pfropfend, Thiere züchtend,
Racen kreuzend gleichsam Vorsehung spielen, um edlere Erzeugungen
zu veranlassen, so ist es unsere List und Berechnung, nicht das indi-
viduelle Verständniss, das uns solches Ergebnis bringt. Wenn wir

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[70/0079] sen. Aus jedem Waizenkorn erwächst, wenn es nicht durch anderwei- tige Verwendung seinem periodischen Leben (Keimung, Halmbildung, Blüthe, Fruchtreifung) entzogen wird, ein individuell andrer Halm, eine neue Generation von Körnern. Die Eichen in demselben Walde, jede wie die andere aus den Eicheln vielleicht derselben Muttereiche er- wachsen, sind individuell verschieden, nicht bloss dem Raume nach, sondern nach Alter, Grösse, Verästung, Gruppirung der Laubmassen u. s. w. Wir nehmen die Unterschiede wohl wahr, aber sie erscheinen uns nicht als wesentlich; wissenschaftlich wie practisch ist uns ihre Individualität gleichgültig; für diese Art Existenzen hat unser Geist kein Verständniss ihres individuellen Seins, wir haben für diese Art Individuen keinen anderen Namen als den ihrer Gattung. Wir sehen wohl, dass sie sich verändern; aber in der nur periodischen Wiederkehr ihres Wechsels haben sie uns keine Geschichte. Wir unterscheiden die einzelnen wohl, aber ihre Unterschiede zeigen uns keine Folgereihe sich in sich selbst steigernder Formungen. Wir fassen sie dem Raum, dem Stoff, dem im Wechsel Gleichen, dem in der Vielheit sich wiederholen- den Einerlei nach auf; denn nur in diesen Beziehungen hat unser Geist Kategorien für sie, nur nach diesen Kategorien können wir sie fassen und verstehen, können wir uns practisch und theoretisch zu ihnen ver- halten. Und diesen unseren Auffassungen gemäss brauchen und ver- brauchen wir sie; wir nehmen sie für das, was sie uns sind. Wir säen diese Waizenkörner, pflegen diese Eichen, um sie ihrer Zeit zu tödten und als das, was sie uns sind, als brennbaren Stoff, als mehl- haltige Frucht, zu verbrauchen; wir züchten diese Thiere, um ihnen täglich die für ihre Jungen sich erzeugende Milch zu rauben, sie schliesslich zu schlachten u. s. w. Unermüdlich beobachten und for- schen wir, das Seiende seinen Stoffen, Kräften, Gesetzen nach zu er- kennen, um es nach den Kategorien, unter denen wir es fassen und be- greifen können, für unsere Zwecke zu verwenden; es ist uns nur Ma- terial; in seinen individuellen Erscheinungen ist es uns verschlossen, unverständlich, gleichgültig. Und wenn wir den Fruchtbaum pfropfend, Thiere züchtend, Racen kreuzend gleichsam Vorsehung spielen, um edlere Erzeugungen zu veranlassen, so ist es unsere List und Berechnung, nicht das indi- viduelle Verständniss, das uns solches Ergebnis bringt. Wenn wir

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/79>, abgerufen am 21.11.2024.