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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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chemisch Körper zerlegen oder verbinden, wenn wir physikalisch sie
so oder so behandeln, gewisse in ihnen vorhandene Functionen zu
isoliren, um sie zu beobachten oder wirken zu lassen, so suchen und
finden wir nicht, was individuell diesem Stein, dieser Flamme, dieser
schwingenden Saite eigen ist, sondern allen gleichartigen. Und wenn
wir die jeweiligen Formen, welche die Thier- oder Pflanzenwelt, die
Landschaft uns bietet, etwa in ästhetischer Weise uns aneignen und ver-
wenden, so wissen wir wohl, dass es nicht die Individualität dieses
Stückes Erdoberfläche, dieses Baumes oder Thieres ist, die wir da-
mit verstanden und dargestellt haben wollen, sondern dass wir in sie
etwas hineinlegen, was nicht in ihnen ist, so nicht in ihnen ist, dass
sie uns nur als Ausdruck unsres Empfindens oder Denkens dienen,
dass wir sie so zu sagen anthropomorphisiren; wie in Dantes Fegefeuer
das ekelhafte Bild der Lust unter dem glühenden Blick des sie in
Begier Anschauenden ein in Schönheit blühendes Weib wird.

Auch in dem Bereich derjenigen Erscheinungen, die wir als Ge-
schichte zusammenfassen, in dem Bereich der sittlichen Welt giebt es
Elemente, die messbar, wägbar, berechenbar sind. Aber am wenigsten
diese materiellen Bedingungen erschöpfen das Leben der sittlichen Welt,
reichen aus sie zu erklären; und wer sie damit erklären zu können
meint, verliert oder verläugnet das hier Wesentliche. Nicht der Trieb
der Begattung erschöpft oder erklärt die sittliche Macht der Ehe; die
gemeinsame Erinnerung des gemeinsam Durchlebten, die gemeinsamen
Hoffnungen und Sorgen, Verluste und Erfüllungen erneuen auch den
alternden Gatten noch die Innigkeit ihres ersten Glückes; ihnen hat
ihre Ehe eine Geschichte, und in dieser Geschichte hat sich ihnen die
sittliche Macht der Ehe begründet, gerechtfertigt, erfüllt.

In dem Bereich der sittlichen Welt ist allerdings nichts, das nicht
unmittelbar oder mittelbar materiell bedingt wäre. Aber diese mate-
riellen Bedingnisse sind weder die einzigen noch die einzig maass-
gebenden; und es ist der Adel des sittlichen Seins, sie nicht etwa zu
missachten und zu verläugnen, wohl aber sie zu durchleuchten und zu
vergeistigen. Denn so, in der Berührung der Geister, in ihrer Arbeit
aneinander und miteinander, in ihrem rastlosen Triebe zu formen, zu
verstehen und verstanden zu werden, wird diese wunderbare Schicht
geistigen Seins, die, immer und immer die natürtiche Welt be-

chemisch Körper zerlegen oder verbinden, wenn wir physikalisch sie
so oder so behandeln, gewisse in ihnen vorhandene Functionen zu
isoliren, um sie zu beobachten oder wirken zu lassen, so suchen und
finden wir nicht, was individuell diesem Stein, dieser Flamme, dieser
schwingenden Saite eigen ist, sondern allen gleichartigen. Und wenn
wir die jeweiligen Formen, welche die Thier- oder Pflanzenwelt, die
Landschaft uns bietet, etwa in ästhetischer Weise uns aneignen und ver-
wenden, so wissen wir wohl, dass es nicht die Individualität dieses
Stückes Erdoberfläche, dieses Baumes oder Thieres ist, die wir da-
mit verstanden und dargestellt haben wollen, sondern dass wir in sie
etwas hineinlegen, was nicht in ihnen ist, so nicht in ihnen ist, dass
sie uns nur als Ausdruck unsres Empfindens oder Denkens dienen,
dass wir sie so zu sagen anthropomorphisiren; wie in Dantes Fegefeuer
das ekelhafte Bild der Lust unter dem glühenden Blick des sie in
Begier Anschauenden ein in Schönheit blühendes Weib wird.

Auch in dem Bereich derjenigen Erscheinungen, die wir als Ge-
schichte zusammenfassen, in dem Bereich der sittlichen Welt giebt es
Elemente, die messbar, wägbar, berechenbar sind. Aber am wenigsten
diese materiellen Bedingungen erschöpfen das Leben der sittlichen Welt,
reichen aus sie zu erklären; und wer sie damit erklären zu können
meint, verliert oder verläugnet das hier Wesentliche. Nicht der Trieb
der Begattung erschöpft oder erklärt die sittliche Macht der Ehe; die
gemeinsame Erinnerung des gemeinsam Durchlebten, die gemeinsamen
Hoffnungen und Sorgen, Verluste und Erfüllungen erneuen auch den
alternden Gatten noch die Innigkeit ihres ersten Glückes; ihnen hat
ihre Ehe eine Geschichte, und in dieser Geschichte hat sich ihnen die
sittliche Macht der Ehe begründet, gerechtfertigt, erfüllt.

In dem Bereich der sittlichen Welt ist allerdings nichts, das nicht
unmittelbar oder mittelbar materiell bedingt wäre. Aber diese mate-
riellen Bedingnisse sind weder die einzigen noch die einzig maass-
gebenden; und es ist der Adel des sittlichen Seins, sie nicht etwa zu
missachten und zu verläugnen, wohl aber sie zu durchleuchten und zu
vergeistigen. Denn so, in der Berührung der Geister, in ihrer Arbeit
aneinander und miteinander, in ihrem rastlosen Triebe zu formen, zu
verstehen und verstanden zu werden, wird diese wunderbare Schicht
geistigen Seins, die, immer und immer die natürtiche Welt be-

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[71/0080] chemisch Körper zerlegen oder verbinden, wenn wir physikalisch sie so oder so behandeln, gewisse in ihnen vorhandene Functionen zu isoliren, um sie zu beobachten oder wirken zu lassen, so suchen und finden wir nicht, was individuell diesem Stein, dieser Flamme, dieser schwingenden Saite eigen ist, sondern allen gleichartigen. Und wenn wir die jeweiligen Formen, welche die Thier- oder Pflanzenwelt, die Landschaft uns bietet, etwa in ästhetischer Weise uns aneignen und ver- wenden, so wissen wir wohl, dass es nicht die Individualität dieses Stückes Erdoberfläche, dieses Baumes oder Thieres ist, die wir da- mit verstanden und dargestellt haben wollen, sondern dass wir in sie etwas hineinlegen, was nicht in ihnen ist, so nicht in ihnen ist, dass sie uns nur als Ausdruck unsres Empfindens oder Denkens dienen, dass wir sie so zu sagen anthropomorphisiren; wie in Dantes Fegefeuer das ekelhafte Bild der Lust unter dem glühenden Blick des sie in Begier Anschauenden ein in Schönheit blühendes Weib wird. Auch in dem Bereich derjenigen Erscheinungen, die wir als Ge- schichte zusammenfassen, in dem Bereich der sittlichen Welt giebt es Elemente, die messbar, wägbar, berechenbar sind. Aber am wenigsten diese materiellen Bedingungen erschöpfen das Leben der sittlichen Welt, reichen aus sie zu erklären; und wer sie damit erklären zu können meint, verliert oder verläugnet das hier Wesentliche. Nicht der Trieb der Begattung erschöpft oder erklärt die sittliche Macht der Ehe; die gemeinsame Erinnerung des gemeinsam Durchlebten, die gemeinsamen Hoffnungen und Sorgen, Verluste und Erfüllungen erneuen auch den alternden Gatten noch die Innigkeit ihres ersten Glückes; ihnen hat ihre Ehe eine Geschichte, und in dieser Geschichte hat sich ihnen die sittliche Macht der Ehe begründet, gerechtfertigt, erfüllt. In dem Bereich der sittlichen Welt ist allerdings nichts, das nicht unmittelbar oder mittelbar materiell bedingt wäre. Aber diese mate- riellen Bedingnisse sind weder die einzigen noch die einzig maass- gebenden; und es ist der Adel des sittlichen Seins, sie nicht etwa zu missachten und zu verläugnen, wohl aber sie zu durchleuchten und zu vergeistigen. Denn so, in der Berührung der Geister, in ihrer Arbeit aneinander und miteinander, in ihrem rastlosen Triebe zu formen, zu verstehen und verstanden zu werden, wird diese wunderbare Schicht geistigen Seins, die, immer und immer die natürtiche Welt be-

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/80>, abgerufen am 21.11.2024.