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Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886.

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zum Ausdruck gelangt und sie bedingt, so ist auch die fort-
schreitende lebendige Entwicklung als Jnhalt des Strebens,
als Sinn des Seins, der Sinn des Weltprocesses d. h. die
Wesensbeschaffenheit desselben, der Schwerpunkt in
der Richtung seines Vollzugs, seine nothwendige und
daher auch gewisse Bewegungsform." Dies zugegeben,
scheint der Kennzeichnung des Weltengeheimnisses als eines
"hehren" doch der Umstand entgegenzustehen, daß das Jndi-
viduum im Weltprocesse preisgegeben ist,
kann es
ihm doch jeden Augenblick beschieden sein, "unter die Räder
des Verhängnisses zu gerathen und unersetzlich geschädigt oder
zertreten zu werden."*) Duboc ist der Letzte, das Weltübel
zu leugnen; er anerkennt dasselbe in seiner ganzen schrecklichen
Macht, aber er thut zugleich in scharfsinniger Weise dar,
daß das Weltübel, das Weltleid einerlei Nothwendigkeit mit
der Nothwendigkeit des Werdens habe. "Gleichviel ob wir
demselben einen metaphysischen oder physischen Hintergrund
leihen, die Existenznothwendigkeit des Werdens -- es
gilt für beide Standpunkte -- bedingt ein Herausschälen aus
niedersten Anfängen, ein Erheben, dem ein Versinken, ein
Anziehen, dem ein Abstoßen anderer Theile, kurz ein Proceß,
dem zahllose Opfer fallen, zur Seite geht. Welche Unsumme
von Leid vermag nicht Einsicht zu bewältigen, welche Un-
summe von Weltleid ist also allein dadurch gesetzt, daß Ein-
sicht erst werden muß, daß sie aus instinktiven Regungen,
dunklen Trieben sich erst zur Helligkeit durcharbeiten, aus dem
geringsten Bestand im Laufe von Generationen zu einer
Summe anschwellen muß, durch welche den nächsten Genera-
tionen Weltleid, foweit es hievon abhängig war, erspart
werden kann." Der Weltproceß stellt demnach, als Ganzes
betrachtet, trotz der Preisgebung des Jndividuums, dennoch

*) p. 230.

zum Ausdruck gelangt und ſie bedingt, ſo iſt auch die fort-
ſchreitende lebendige Entwicklung als Jnhalt des Strebens,
als Sinn des Seins, der Sinn des Weltproceſſes d. h. die
Weſensbeſchaffenheit deſſelben, der Schwerpunkt in
der Richtung ſeines Vollzugs, ſeine nothwendige und
daher auch gewiſſe Bewegungsform.“ Dies zugegeben,
ſcheint der Kennzeichnung des Weltengeheimniſſes als eines
„hehren“ doch der Umſtand entgegenzuſtehen, daß das Jndi-
viduum im Weltproceſſe preisgegeben iſt,
kann es
ihm doch jeden Augenblick beſchieden ſein, „unter die Räder
des Verhängniſſes zu gerathen und unerſetzlich geſchädigt oder
zertreten zu werden.“*) Duboc iſt der Letzte, das Weltübel
zu leugnen; er anerkennt daſſelbe in ſeiner ganzen ſchrecklichen
Macht, aber er thut zugleich in ſcharfſinniger Weiſe dar,
daß das Weltübel, das Weltleid einerlei Nothwendigkeit mit
der Nothwendigkeit des Werdens habe. „Gleichviel ob wir
demſelben einen metaphyſiſchen oder phyſiſchen Hintergrund
leihen, die Exiſtenznothwendigkeit des Werdens — es
gilt für beide Standpunkte — bedingt ein Herausſchälen aus
niederſten Anfängen, ein Erheben, dem ein Verſinken, ein
Anziehen, dem ein Abſtoßen anderer Theile, kurz ein Proceß,
dem zahlloſe Opfer fallen, zur Seite geht. Welche Unſumme
von Leid vermag nicht Einſicht zu bewältigen, welche Un-
ſumme von Weltleid iſt alſo allein dadurch geſetzt, daß Ein-
ſicht erſt werden muß, daß ſie aus inſtinktiven Regungen,
dunklen Trieben ſich erſt zur Helligkeit durcharbeiten, aus dem
geringſten Beſtand im Laufe von Generationen zu einer
Summe anſchwellen muß, durch welche den nächſten Genera-
tionen Weltleid, foweit es hievon abhängig war, erſpart
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betrachtet, trotz der Preisgebung des Jndividuums, dennoch

*) p. 230.
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[63/0072] zum Ausdruck gelangt und ſie bedingt, ſo iſt auch die fort- ſchreitende lebendige Entwicklung als Jnhalt des Strebens, als Sinn des Seins, der Sinn des Weltproceſſes d. h. die Weſensbeſchaffenheit deſſelben, der Schwerpunkt in der Richtung ſeines Vollzugs, ſeine nothwendige und daher auch gewiſſe Bewegungsform.“ Dies zugegeben, ſcheint der Kennzeichnung des Weltengeheimniſſes als eines „hehren“ doch der Umſtand entgegenzuſtehen, daß das Jndi- viduum im Weltproceſſe preisgegeben iſt, kann es ihm doch jeden Augenblick beſchieden ſein, „unter die Räder des Verhängniſſes zu gerathen und unerſetzlich geſchädigt oder zertreten zu werden.“ *) Duboc iſt der Letzte, das Weltübel zu leugnen; er anerkennt daſſelbe in ſeiner ganzen ſchrecklichen Macht, aber er thut zugleich in ſcharfſinniger Weiſe dar, daß das Weltübel, das Weltleid einerlei Nothwendigkeit mit der Nothwendigkeit des Werdens habe. „Gleichviel ob wir demſelben einen metaphyſiſchen oder phyſiſchen Hintergrund leihen, die Exiſtenznothwendigkeit des Werdens — es gilt für beide Standpunkte — bedingt ein Herausſchälen aus niederſten Anfängen, ein Erheben, dem ein Verſinken, ein Anziehen, dem ein Abſtoßen anderer Theile, kurz ein Proceß, dem zahlloſe Opfer fallen, zur Seite geht. Welche Unſumme von Leid vermag nicht Einſicht zu bewältigen, welche Un- ſumme von Weltleid iſt alſo allein dadurch geſetzt, daß Ein- ſicht erſt werden muß, daß ſie aus inſtinktiven Regungen, dunklen Trieben ſich erſt zur Helligkeit durcharbeiten, aus dem geringſten Beſtand im Laufe von Generationen zu einer Summe anſchwellen muß, durch welche den nächſten Genera- tionen Weltleid, foweit es hievon abhängig war, erſpart werden kann.“ Der Weltproceß ſtellt demnach, als Ganzes betrachtet, trotz der Preisgebung des Jndividuums, dennoch *) p. 230.

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Zitationshilfe: Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/druskowitz_religionsersatz_1886/72>, abgerufen am 24.11.2024.