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Du Bois-Reymond, Emil Heinrich: Über die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig, 1872.

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genseitigen Lage und ihrer Bewegung, dass ihre Lage
und Bewegung zu irgend einer vergangenen und zu¬
künftigen Zeit mit derselben Sicherheit berechnet werden
kann, wie Lage und Bewegung der Himmelskörper bei
vorausgesetzter unbedingter Schärfe der Beobachtungen
und Vollendung der Theorie. Um die Differentialglei¬
chungen anzusetzen, deren Integration die gewünschten
Bestimmungen liefert, genügen gleichsam drei Positionen
der Theile des Systemes, d. h. es ist nöthig und zu¬
reichend, dass in drei aufeinanderfolgenden, durch zwei
Zeitdifferentiale getrennten Augenblicken die Lage der
Theile des Systemes bekannt sei. Aus dem Unterschiede
der in den gleichen, unendlich kleinen Zeiträumen durch¬
laufenen, nach den drei Axen zerlegten Wege folgen
dann die auf das System und die in ihm wirkenden
Kräfte.

Astronomische Kenntniss eines materiellen Systemes
ist bei unserer Unfähigkeit, Materie und Kraft zu be¬
greifen, die vollkommenste Kenntniss, die wir davon er¬
langen können. Es ist die, wobei unser Causalitätstrieb
sich zu beruhigen gewohnt ist, und welche der von La¬
place
gedachte Geist selber bei gehörigem Gebrauche
seiner Weltformel von dem Systeme besitzen würde.

Denken wir uns nun, wir hätten es zur astronomi¬
schen Kenntniss eines Muskels, einer Drüse, eines elek¬
tischen oder Leucht-Organes im gereizten Zustande, einer

genseitigen Lage und ihrer Bewegung, dass ihre Lage
und Bewegung zu irgend einer vergangenen und zu¬
künftigen Zeit mit derselben Sicherheit berechnet werden
kann, wie Lage und Bewegung der Himmelskörper bei
vorausgesetzter unbedingter Schärfe der Beobachtungen
und Vollendung der Theorie. Um die Differentialglei¬
chungen anzusetzen, deren Integration die gewünschten
Bestimmungen liefert, genügen gleichsam drei Positionen
der Theile des Systemes, d. h. es ist nöthig und zu¬
reichend, dass in drei aufeinanderfolgenden, durch zwei
Zeitdifferentiale getrennten Augenblicken die Lage der
Theile des Systemes bekannt sei. Aus dem Unterschiede
der in den gleichen, unendlich kleinen Zeiträumen durch¬
laufenen, nach den drei Axen zerlegten Wege folgen
dann die auf das System und die in ihm wirkenden
Kräfte.

Astronomische Kenntniss eines materiellen Systemes
ist bei unserer Unfähigkeit, Materie und Kraft zu be¬
greifen, die vollkommenste Kenntniss, die wir davon er¬
langen können. Es ist die, wobei unser Causalitätstrieb
sich zu beruhigen gewohnt ist, und welche der von La¬
place
gedachte Geist selber bei gehörigem Gebrauche
seiner Weltformel von dem Systeme besitzen würde.

Denken wir uns nun, wir hätten es zur astronomi¬
schen Kenntniss eines Muskels, einer Drüse, eines elek¬
tischen oder Leucht-Organes im gereizten Zustande, einer

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[22/0030] genseitigen Lage und ihrer Bewegung, dass ihre Lage und Bewegung zu irgend einer vergangenen und zu¬ künftigen Zeit mit derselben Sicherheit berechnet werden kann, wie Lage und Bewegung der Himmelskörper bei vorausgesetzter unbedingter Schärfe der Beobachtungen und Vollendung der Theorie. Um die Differentialglei¬ chungen anzusetzen, deren Integration die gewünschten Bestimmungen liefert, genügen gleichsam drei Positionen der Theile des Systemes, d. h. es ist nöthig und zu¬ reichend, dass in drei aufeinanderfolgenden, durch zwei Zeitdifferentiale getrennten Augenblicken die Lage der Theile des Systemes bekannt sei. Aus dem Unterschiede der in den gleichen, unendlich kleinen Zeiträumen durch¬ laufenen, nach den drei Axen zerlegten Wege folgen dann die auf das System und die in ihm wirkenden Kräfte. Astronomische Kenntniss eines materiellen Systemes ist bei unserer Unfähigkeit, Materie und Kraft zu be¬ greifen, die vollkommenste Kenntniss, die wir davon er¬ langen können. Es ist die, wobei unser Causalitätstrieb sich zu beruhigen gewohnt ist, und welche der von La¬ place gedachte Geist selber bei gehörigem Gebrauche seiner Weltformel von dem Systeme besitzen würde. Denken wir uns nun, wir hätten es zur astronomi¬ schen Kenntniss eines Muskels, einer Drüse, eines elek¬ tischen oder Leucht-Organes im gereizten Zustande, einer

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Zitationshilfe: Du Bois-Reymond, Emil Heinrich: Über die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig, 1872, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dubois_naturerkennen_1872/30>, abgerufen am 21.11.2024.