Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dühring, Eugen: Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten. 2. Aufl. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

Verfassungen. Hier ist es für das Studium in erster Linie nöthig,
das zu erkennen, was auch bei noch so grossen Veränderungen
als bedingungslose Wahrheit formulirt werden kann. Unsere
letzten Principien für höhere weibliche Berufsbildung liefern hier
gleich ein Beispiel. Der Satz, dass ärztliche Functionen an
Frauen grundsätzlich und vorwiegend auch von Frauen auszu-
üben sind, ist ein höheres Sittenprincip, welches bestehen bleibt,
wie sich auch ökonomisch und social die künftige Gesellschaft
gestalten möge. Es würde sogar auch dann gelten, wenn es gar
keine privatim erwerbenden Aerzte mehr gäbe, sondern der be-
treffende Beistand, sei es beamtenartig oder in ganz freier gesell-
schaftlicher Function, sozusagen von ohnedies gleich allen Andern
ernährten Gesellschaftsbürgern ausgeübt würde. Ich trete hier
nicht für eine solche Fiction ein, sondern mache sie nur, damit
sich zeige, wie die obersten Principien unseres Entwurfs der
höhern weiblichen Berufsfunctionen nicht an die heutige und
überhaupt nicht an eine specielle Gesellschaftsordnung gebunden
sind. Sie haben einen allgemeineren, weitertragenden Sinn, von
dem jeder eine Anwendung machen kann, je nachdem er die
Bilder anderer ökonomischer und socialer Regulirungen ins
Auge fasst.

In Bezug auf die öffentlichen Zustände hat es bisher nur
ein einziges Kenntnissgebiet gegeben, welches zum Theil als
eigentliche Wissenschaft gelten kann. Es ist dies die Volks-
wirthschaftslehre, die den fraglichen Vorzug insoweit hat, als sie
einige Wahrheiten enthält, die von der Veränderung socialer Zu-
stände unabhängig sind. Beispielsweise haben die Natur- und
Culturgesetze, die sich aus den Entfernungen und der Transport-
nothwendigkeit ergeben, einen allgemeinen Kern, der unter allen
Umständen bestehen bleibt und sich geltend macht, welche sociale
Organisation man auch ins Auge fassen möge. Von der Seite
solcher durchgreifender Wahrheiten genommen, bringen die Be-
trachtung der Volkswirthschaft und das Studium der zugehörigen
Theorien wirkliche Frucht. Durch solche Unterscheidung kommt
man hinter diejenigen Bestandtheile, die an der Wissenschaft von
dem, was wirthschaftlich besteht, unrichtige Erklärungen und
Gesetze enthalten, weil stillschweigend oder ausdrüklich falsche
Voraussetzungen über die Wirkung der socialen Zustände zu
Grunde liegen.

Uebrigens ist es an der Volkswirthschaftslehre am sichtbarsten,

Verfassungen. Hier ist es für das Studium in erster Linie nöthig,
das zu erkennen, was auch bei noch so grossen Veränderungen
als bedingungslose Wahrheit formulirt werden kann. Unsere
letzten Principien für höhere weibliche Berufsbildung liefern hier
gleich ein Beispiel. Der Satz, dass ärztliche Functionen an
Frauen grundsätzlich und vorwiegend auch von Frauen auszu-
üben sind, ist ein höheres Sittenprincip, welches bestehen bleibt,
wie sich auch ökonomisch und social die künftige Gesellschaft
gestalten möge. Es würde sogar auch dann gelten, wenn es gar
keine privatim erwerbenden Aerzte mehr gäbe, sondern der be-
treffende Beistand, sei es beamtenartig oder in ganz freier gesell-
schaftlicher Function, sozusagen von ohnedies gleich allen Andern
ernährten Gesellschaftsbürgern ausgeübt würde. Ich trete hier
nicht für eine solche Fiction ein, sondern mache sie nur, damit
sich zeige, wie die obersten Principien unseres Entwurfs der
höhern weiblichen Berufsfunctionen nicht an die heutige und
überhaupt nicht an eine specielle Gesellschaftsordnung gebunden
sind. Sie haben einen allgemeineren, weitertragenden Sinn, von
dem jeder eine Anwendung machen kann, je nachdem er die
Bilder anderer ökonomischer und socialer Regulirungen ins
Auge fasst.

In Bezug auf die öffentlichen Zustände hat es bisher nur
ein einziges Kenntnissgebiet gegeben, welches zum Theil als
eigentliche Wissenschaft gelten kann. Es ist dies die Volks-
wirthschaftslehre, die den fraglichen Vorzug insoweit hat, als sie
einige Wahrheiten enthält, die von der Veränderung socialer Zu-
stände unabhängig sind. Beispielsweise haben die Natur- und
Culturgesetze, die sich aus den Entfernungen und der Transport-
nothwendigkeit ergeben, einen allgemeinen Kern, der unter allen
Umständen bestehen bleibt und sich geltend macht, welche sociale
Organisation man auch ins Auge fassen möge. Von der Seite
solcher durchgreifender Wahrheiten genommen, bringen die Be-
trachtung der Volkswirthschaft und das Studium der zugehörigen
Theorien wirkliche Frucht. Durch solche Unterscheidung kommt
man hinter diejenigen Bestandtheile, die an der Wissenschaft von
dem, was wirthschaftlich besteht, unrichtige Erklärungen und
Gesetze enthalten, weil stillschweigend oder ausdrüklich falsche
Voraussetzungen über die Wirkung der socialen Zustände zu
Grunde liegen.

Uebrigens ist es an der Volkswirthschaftslehre am sichtbarsten,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0110" n="101"/>
Verfassungen. Hier ist es für das Studium in erster Linie nöthig,<lb/>
das zu erkennen, was auch bei noch so grossen Veränderungen<lb/>
als bedingungslose Wahrheit formulirt werden kann. Unsere<lb/>
letzten Principien für höhere weibliche Berufsbildung liefern hier<lb/>
gleich ein Beispiel. Der Satz, dass ärztliche Functionen an<lb/>
Frauen grundsätzlich und vorwiegend auch von Frauen auszu-<lb/>
üben sind, ist ein höheres Sittenprincip, welches bestehen bleibt,<lb/>
wie sich auch ökonomisch und social die künftige Gesellschaft<lb/>
gestalten möge. Es würde sogar auch dann gelten, wenn es gar<lb/>
keine privatim erwerbenden Aerzte mehr gäbe, sondern der be-<lb/>
treffende Beistand, sei es beamtenartig oder in ganz freier gesell-<lb/>
schaftlicher Function, sozusagen von ohnedies gleich allen Andern<lb/>
ernährten Gesellschaftsbürgern ausgeübt würde. Ich trete hier<lb/>
nicht für eine solche Fiction ein, sondern mache sie nur, damit<lb/>
sich zeige, wie die obersten Principien unseres Entwurfs der<lb/>
höhern weiblichen Berufsfunctionen nicht an die heutige und<lb/>
überhaupt nicht an eine specielle Gesellschaftsordnung gebunden<lb/>
sind. Sie haben einen allgemeineren, weitertragenden Sinn, von<lb/>
dem jeder eine Anwendung machen kann, je nachdem er die<lb/>
Bilder anderer ökonomischer und socialer Regulirungen ins<lb/>
Auge fasst.</p><lb/>
        <p>In Bezug auf die öffentlichen Zustände hat es bisher nur<lb/>
ein einziges Kenntnissgebiet gegeben, welches zum Theil als<lb/>
eigentliche Wissenschaft gelten kann. Es ist dies die Volks-<lb/>
wirthschaftslehre, die den fraglichen Vorzug insoweit hat, als sie<lb/>
einige Wahrheiten enthält, die von der Veränderung socialer Zu-<lb/>
stände unabhängig sind. Beispielsweise haben die Natur- und<lb/>
Culturgesetze, die sich aus den Entfernungen und der Transport-<lb/>
nothwendigkeit ergeben, einen allgemeinen Kern, der unter allen<lb/>
Umständen bestehen bleibt und sich geltend macht, welche sociale<lb/>
Organisation man auch ins Auge fassen möge. Von der Seite<lb/>
solcher durchgreifender Wahrheiten genommen, bringen die Be-<lb/>
trachtung der Volkswirthschaft und das Studium der zugehörigen<lb/>
Theorien wirkliche Frucht. Durch solche Unterscheidung kommt<lb/>
man hinter diejenigen Bestandtheile, die an der Wissenschaft von<lb/>
dem, was wirthschaftlich besteht, unrichtige Erklärungen und<lb/>
Gesetze enthalten, weil stillschweigend oder ausdrüklich falsche<lb/>
Voraussetzungen über die Wirkung der socialen Zustände zu<lb/>
Grunde liegen.</p><lb/>
        <p>Uebrigens ist es an der Volkswirthschaftslehre am sichtbarsten,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0110] Verfassungen. Hier ist es für das Studium in erster Linie nöthig, das zu erkennen, was auch bei noch so grossen Veränderungen als bedingungslose Wahrheit formulirt werden kann. Unsere letzten Principien für höhere weibliche Berufsbildung liefern hier gleich ein Beispiel. Der Satz, dass ärztliche Functionen an Frauen grundsätzlich und vorwiegend auch von Frauen auszu- üben sind, ist ein höheres Sittenprincip, welches bestehen bleibt, wie sich auch ökonomisch und social die künftige Gesellschaft gestalten möge. Es würde sogar auch dann gelten, wenn es gar keine privatim erwerbenden Aerzte mehr gäbe, sondern der be- treffende Beistand, sei es beamtenartig oder in ganz freier gesell- schaftlicher Function, sozusagen von ohnedies gleich allen Andern ernährten Gesellschaftsbürgern ausgeübt würde. Ich trete hier nicht für eine solche Fiction ein, sondern mache sie nur, damit sich zeige, wie die obersten Principien unseres Entwurfs der höhern weiblichen Berufsfunctionen nicht an die heutige und überhaupt nicht an eine specielle Gesellschaftsordnung gebunden sind. Sie haben einen allgemeineren, weitertragenden Sinn, von dem jeder eine Anwendung machen kann, je nachdem er die Bilder anderer ökonomischer und socialer Regulirungen ins Auge fasst. In Bezug auf die öffentlichen Zustände hat es bisher nur ein einziges Kenntnissgebiet gegeben, welches zum Theil als eigentliche Wissenschaft gelten kann. Es ist dies die Volks- wirthschaftslehre, die den fraglichen Vorzug insoweit hat, als sie einige Wahrheiten enthält, die von der Veränderung socialer Zu- stände unabhängig sind. Beispielsweise haben die Natur- und Culturgesetze, die sich aus den Entfernungen und der Transport- nothwendigkeit ergeben, einen allgemeinen Kern, der unter allen Umständen bestehen bleibt und sich geltend macht, welche sociale Organisation man auch ins Auge fassen möge. Von der Seite solcher durchgreifender Wahrheiten genommen, bringen die Be- trachtung der Volkswirthschaft und das Studium der zugehörigen Theorien wirkliche Frucht. Durch solche Unterscheidung kommt man hinter diejenigen Bestandtheile, die an der Wissenschaft von dem, was wirthschaftlich besteht, unrichtige Erklärungen und Gesetze enthalten, weil stillschweigend oder ausdrüklich falsche Voraussetzungen über die Wirkung der socialen Zustände zu Grunde liegen. Uebrigens ist es an der Volkswirthschaftslehre am sichtbarsten,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Projekt: Texte zur Frauenfrage um 1900 Gießen/Kassel: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-06-13T16:46:57Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Thomas Gloning, Melanie Henß, Hannah Glaum: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-06-13T16:46:57Z)
Internet Archive: Bereitstellung der Bilddigitalisate. (2013-06-13T16:46:57Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • Druckfehler: ignoriert
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • i/j nach Lautwert: Lautwert transkribiert
  • I/J nach Lautwert: Lautwert transkribiert
  • Kolumnentitel: nicht übernommen
  • Kustoden: nicht übernommen
  • langes s (ſ): als s transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/duehring_berufsbildung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/duehring_berufsbildung_1885/110
Zitationshilfe: Dühring, Eugen: Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten. 2. Aufl. Leipzig, 1885, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/duehring_berufsbildung_1885/110>, abgerufen am 23.11.2024.