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Dühring, Eugen: Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten. 2. Aufl. Leipzig, 1885.

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der Vergessenheit anheimgeben und Angesichts des wirklichen
Lebens und der neuern Gesetzbücher sich durch den Gedanken
erheben, welcher classisch romantischen Täuschung er nun glück-
lich entwachsen sei. Der nachdenkende Mediciner aber wird sich
sagen, dass er, um auch einmal aus Neugier in den Hippokrates,
hineinzusehen, mit seinem unzulänglichen Gymnasialgriechisch
doch nicht ausgereicht, sondern zu Herrn Littres schöner franzö-
sischer Ausgabe oder auch zu einer deutschen Uebersetzung
hätte seine Zuflucht nehmen müssen. Uebrigens wird er wissen,
dass trotz einiger guter Maximen, über welche die Heilkunde
und die Betrachtungsart der Krankheiten in den 2000 Jahren nicht
hinausgekommen ist, doch der jetzige Hauptlernstoff im Natur-
wissenschaftlichen liege, worin die Alten bekanntlich weniger als
Kinder gewesen sind. Was an der Medicin nicht priesterartig
dunkel, autoritär und abergläubisch ist, stammt zum überwiegen-
den Theil aus der modernen, ja soweit es sich um die Geltend-
machung besserer Grundlagen des Naturwissens handelt, erst aus
der allerneusten Zeit. Die Ausmerzung des Verkehrten ist ein
Haupttheil der Fortschritte gewesen, und hiebei war die Altsprach-
lichkeit nicht ein Förderungsmittel, sondern eine Hemmung.

In Wahrheit ist das angedeutete Stück Mittelalter und Kirchen-
sprache und mithin die ganze Erbschaft des verwesten römischen
Reichs völlig abzuthun. Unmittelbare Kenntniss der Sachen im
modern wissenschaftlichen Sinne ist bei den Alten nicht zu haben.
Die Literatur des Römerthums aber ist sogar unwissenschaftlich
gewesen und hat, in Ermangelung schöpferischer Anlagen, blos
das Griechenthum nachgeahmt und zwar meistens recht dürftig
copirt. Zur eigentlichen Wissenschaft hatten die Römer niemals
irgend welche angestammte Neigung; die Schöngeisterei der ersten
Zeiten ihres Kaiserthums war, wie gesagt, erborgt und obenein
ziemlich servil. Was aber die sogenannten classischen Juristen
anbelangt, die sich in den ersten Kaiserjahrhunderten ausprägten,
so sind von ihren Werken nur Trümmer und Mosaikstückchen
vorhanden, und die verhältnissmässige Schärfe ihrer Manier, privat-
rechtliche Vorstellungen zu zersplittern, hat als Schulungsmittel
neuerer Gelehrsamkeit im Werthe immer mehr sinken müssen,
je entschiedener sich herausstellte, dass sich jene Formen des
Denkens von dem völlig fremdartigen Rechtsstoff nicht trennen
liessen. Dieser Rechtsstoff selbst ist aber nunmehr in der so-
genannten reinen Gestalt ein Gegenstand der romanistischen

der Vergessenheit anheimgeben und Angesichts des wirklichen
Lebens und der neuern Gesetzbücher sich durch den Gedanken
erheben, welcher classisch romantischen Täuschung er nun glück-
lich entwachsen sei. Der nachdenkende Mediciner aber wird sich
sagen, dass er, um auch einmal aus Neugier in den Hippokrates,
hineinzusehen, mit seinem unzulänglichen Gymnasialgriechisch
doch nicht ausgereicht, sondern zu Herrn Littrés schöner franzö-
sischer Ausgabe oder auch zu einer deutschen Uebersetzung
hätte seine Zuflucht nehmen müssen. Uebrigens wird er wissen,
dass trotz einiger guter Maximen, über welche die Heilkunde
und die Betrachtungsart der Krankheiten in den 2000 Jahren nicht
hinausgekommen ist, doch der jetzige Hauptlernstoff im Natur-
wissenschaftlichen liege, worin die Alten bekanntlich weniger als
Kinder gewesen sind. Was an der Medicin nicht priesterartig
dunkel, autoritär und abergläubisch ist, stammt zum überwiegen-
den Theil aus der modernen, ja soweit es sich um die Geltend-
machung besserer Grundlagen des Naturwissens handelt, erst aus
der allerneusten Zeit. Die Ausmerzung des Verkehrten ist ein
Haupttheil der Fortschritte gewesen, und hiebei war die Altsprach-
lichkeit nicht ein Förderungsmittel, sondern eine Hemmung.

In Wahrheit ist das angedeutete Stück Mittelalter und Kirchen-
sprache und mithin die ganze Erbschaft des verwesten römischen
Reichs völlig abzuthun. Unmittelbare Kenntniss der Sachen im
modern wissenschaftlichen Sinne ist bei den Alten nicht zu haben.
Die Literatur des Römerthums aber ist sogar unwissenschaftlich
gewesen und hat, in Ermangelung schöpferischer Anlagen, blos
das Griechenthum nachgeahmt und zwar meistens recht dürftig
copirt. Zur eigentlichen Wissenschaft hatten die Römer niemals
irgend welche angestammte Neigung; die Schöngeisterei der ersten
Zeiten ihres Kaiserthums war, wie gesagt, erborgt und obenein
ziemlich servil. Was aber die sogenannten classischen Juristen
anbelangt, die sich in den ersten Kaiserjahrhunderten ausprägten,
so sind von ihren Werken nur Trümmer und Mosaikstückchen
vorhanden, und die verhältnissmässige Schärfe ihrer Manier, privat-
rechtliche Vorstellungen zu zersplittern, hat als Schulungsmittel
neuerer Gelehrsamkeit im Werthe immer mehr sinken müssen,
je entschiedener sich herausstellte, dass sich jene Formen des
Denkens von dem völlig fremdartigen Rechtsstoff nicht trennen
liessen. Dieser Rechtsstoff selbst ist aber nunmehr in der so-
genannten reinen Gestalt ein Gegenstand der romanistischen

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[46/0055] der Vergessenheit anheimgeben und Angesichts des wirklichen Lebens und der neuern Gesetzbücher sich durch den Gedanken erheben, welcher classisch romantischen Täuschung er nun glück- lich entwachsen sei. Der nachdenkende Mediciner aber wird sich sagen, dass er, um auch einmal aus Neugier in den Hippokrates, hineinzusehen, mit seinem unzulänglichen Gymnasialgriechisch doch nicht ausgereicht, sondern zu Herrn Littrés schöner franzö- sischer Ausgabe oder auch zu einer deutschen Uebersetzung hätte seine Zuflucht nehmen müssen. Uebrigens wird er wissen, dass trotz einiger guter Maximen, über welche die Heilkunde und die Betrachtungsart der Krankheiten in den 2000 Jahren nicht hinausgekommen ist, doch der jetzige Hauptlernstoff im Natur- wissenschaftlichen liege, worin die Alten bekanntlich weniger als Kinder gewesen sind. Was an der Medicin nicht priesterartig dunkel, autoritär und abergläubisch ist, stammt zum überwiegen- den Theil aus der modernen, ja soweit es sich um die Geltend- machung besserer Grundlagen des Naturwissens handelt, erst aus der allerneusten Zeit. Die Ausmerzung des Verkehrten ist ein Haupttheil der Fortschritte gewesen, und hiebei war die Altsprach- lichkeit nicht ein Förderungsmittel, sondern eine Hemmung. In Wahrheit ist das angedeutete Stück Mittelalter und Kirchen- sprache und mithin die ganze Erbschaft des verwesten römischen Reichs völlig abzuthun. Unmittelbare Kenntniss der Sachen im modern wissenschaftlichen Sinne ist bei den Alten nicht zu haben. Die Literatur des Römerthums aber ist sogar unwissenschaftlich gewesen und hat, in Ermangelung schöpferischer Anlagen, blos das Griechenthum nachgeahmt und zwar meistens recht dürftig copirt. Zur eigentlichen Wissenschaft hatten die Römer niemals irgend welche angestammte Neigung; die Schöngeisterei der ersten Zeiten ihres Kaiserthums war, wie gesagt, erborgt und obenein ziemlich servil. Was aber die sogenannten classischen Juristen anbelangt, die sich in den ersten Kaiserjahrhunderten ausprägten, so sind von ihren Werken nur Trümmer und Mosaikstückchen vorhanden, und die verhältnissmässige Schärfe ihrer Manier, privat- rechtliche Vorstellungen zu zersplittern, hat als Schulungsmittel neuerer Gelehrsamkeit im Werthe immer mehr sinken müssen, je entschiedener sich herausstellte, dass sich jene Formen des Denkens von dem völlig fremdartigen Rechtsstoff nicht trennen liessen. Dieser Rechtsstoff selbst ist aber nunmehr in der so- genannten reinen Gestalt ein Gegenstand der romanistischen

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Zitationshilfe: Dühring, Eugen: Der Weg zur höheren Berufsbildung der Frauen und die Lehrweise der Universitäten. 2. Aufl. Leipzig, 1885, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/duehring_berufsbildung_1885/55>, abgerufen am 28.04.2024.