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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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fernung zweier Signalstangen, die Position eines Sterns zu
bestimmter Stunde, die Ausdehnung eines Metalls für eine
bestimmte Temperaturzunahme, alle die zahlreichen Expo-
nenten, Koefficienten und sonstigen Konstanten der Physik
und Chemie werden uns immer nur gegeben als sehr an-
nähernd konstante Durchschnittswerte aus differierenden Einzel-
beobachtungen. Andrerseits sind die Anzahl der Selbstmörder
in einem bestimmten Monat, die mittlere Lebensdauer an
einem Orte, die Zahl der Wagen und Passanten pro Tag an einer
bestimmten Strassenecke u. s. w. ebenfalls je im Durchschnitt
aus grösseren Gruppen von Beobachtungen merklich konstant.
Allein beide Arten von Zahlen, die ich vorübergehend als
naturwissenschaftliche und statistische Konstanten bezeichnen
will, sind, wie jedermann weiss, konstant aus verschiedenen
Gründen und mit ganz verschiedenem Nutzen für die Er-
kenntnis von Kausalverhältnissen.

Man kann die Unterschiede etwa folgendermassen for-
mulieren.

Bei der Hervorbringung der naturwissenschaftlichen Kon-
stanten wird jeder einzelne Effekt erzeugt durch eine Kom-
bination von ganz denselben Ursachen. Die Einzelwerte
fallen dabei etwas verschieden aus, weil eine gewisse Anzahl
jener Ursachen nicht immer mit genau denselben Werten in
die Kombination eingeht (kleine Fehler bei der Einstellung
und dem Ablesen der Instrumente, Unregelmässigkeiten in der
Textur und Zusammensetzung der untersuchten oder benutzten
Körper u. s. w.). Dieses Schwanken einzelner Ursachen je-
doch geschieht erfahrungsmässig nicht absolut regellos,
sondern pflegt begrenzte, verhältnismässigkleine Kreise
von Werten symmetrisch um einen Mittelwert zu
durchlaufen, oder besser durchzuprobieren. Bei Zusammen-
fassung mehrerer Fälle müssen sich dadurch die Effekte der

fernung zweier Signalstangen, die Position eines Sterns zu
bestimmter Stunde, die Ausdehnung eines Metalls für eine
bestimmte Temperaturzunahme, alle die zahlreichen Expo-
nenten, Koefficienten und sonstigen Konstanten der Physik
und Chemie werden uns immer nur gegeben als sehr an-
nähernd konstante Durchschnittswerte aus differierenden Einzel-
beobachtungen. Andrerseits sind die Anzahl der Selbstmörder
in einem bestimmten Monat, die mittlere Lebensdauer an
einem Orte, die Zahl der Wagen und Passanten pro Tag an einer
bestimmten Straſsenecke u. s. w. ebenfalls je im Durchschnitt
aus gröſseren Gruppen von Beobachtungen merklich konstant.
Allein beide Arten von Zahlen, die ich vorübergehend als
naturwissenschaftliche und statistische Konstanten bezeichnen
will, sind, wie jedermann weiſs, konstant aus verschiedenen
Gründen und mit ganz verschiedenem Nutzen für die Er-
kenntnis von Kausalverhältnissen.

Man kann die Unterschiede etwa folgendermaſsen for-
mulieren.

Bei der Hervorbringung der naturwissenschaftlichen Kon-
stanten wird jeder einzelne Effekt erzeugt durch eine Kom-
bination von ganz denselben Ursachen. Die Einzelwerte
fallen dabei etwas verschieden aus, weil eine gewisse Anzahl
jener Ursachen nicht immer mit genau denselben Werten in
die Kombination eingeht (kleine Fehler bei der Einstellung
und dem Ablesen der Instrumente, Unregelmäſsigkeiten in der
Textur und Zusammensetzung der untersuchten oder benutzten
Körper u. s. w.). Dieses Schwanken einzelner Ursachen je-
doch geschieht erfahrungsmäſsig nicht absolut regellos,
sondern pflegt begrenzte, verhältnismäſsigkleine Kreise
von Werten symmetrisch um einen Mittelwert zu
durchlaufen, oder besser durchzuprobieren. Bei Zusammen-
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[18/0034] fernung zweier Signalstangen, die Position eines Sterns zu bestimmter Stunde, die Ausdehnung eines Metalls für eine bestimmte Temperaturzunahme, alle die zahlreichen Expo- nenten, Koefficienten und sonstigen Konstanten der Physik und Chemie werden uns immer nur gegeben als sehr an- nähernd konstante Durchschnittswerte aus differierenden Einzel- beobachtungen. Andrerseits sind die Anzahl der Selbstmörder in einem bestimmten Monat, die mittlere Lebensdauer an einem Orte, die Zahl der Wagen und Passanten pro Tag an einer bestimmten Straſsenecke u. s. w. ebenfalls je im Durchschnitt aus gröſseren Gruppen von Beobachtungen merklich konstant. Allein beide Arten von Zahlen, die ich vorübergehend als naturwissenschaftliche und statistische Konstanten bezeichnen will, sind, wie jedermann weiſs, konstant aus verschiedenen Gründen und mit ganz verschiedenem Nutzen für die Er- kenntnis von Kausalverhältnissen. Man kann die Unterschiede etwa folgendermaſsen for- mulieren. Bei der Hervorbringung der naturwissenschaftlichen Kon- stanten wird jeder einzelne Effekt erzeugt durch eine Kom- bination von ganz denselben Ursachen. Die Einzelwerte fallen dabei etwas verschieden aus, weil eine gewisse Anzahl jener Ursachen nicht immer mit genau denselben Werten in die Kombination eingeht (kleine Fehler bei der Einstellung und dem Ablesen der Instrumente, Unregelmäſsigkeiten in der Textur und Zusammensetzung der untersuchten oder benutzten Körper u. s. w.). Dieses Schwanken einzelner Ursachen je- doch geschieht erfahrungsmäſsig nicht absolut regellos, sondern pflegt begrenzte, verhältnismäſsigkleine Kreise von Werten symmetrisch um einen Mittelwert zu durchlaufen, oder besser durchzuprobieren. Bei Zusammen- fassung mehrerer Fälle müssen sich dadurch die Effekte der

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/34>, abgerufen am 23.11.2024.