Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 1. Stuttgart, 1864.darf. Während der Nilfahrt wollte ich Dir keine Erzäh- "Jch danke Dir," antwortete der Spartaner. "Als "Rhodopis," begann Phanes, "ward als kleines Kind, "Aesop 14), der Thierfabeldichter, welcher damals gleich- darf. Während der Nilfahrt wollte ich Dir keine Erzäh- „Jch danke Dir,“ antwortete der Spartaner. „Als „Rhodopis,“ begann Phanes, „ward als kleines Kind, „Aeſop 14), der Thierfabeldichter, welcher damals gleich- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0025" n="7"/> darf. Während der Nilfahrt wollte ich Dir keine Erzäh-<lb/> lung aufdrängen. Dieſer alte Strom zwingt mit unbe-<lb/> greiflicher Macht zum Schweigen und zur ſtillen Beſchau-<lb/> lichkeit. Als ich, wie Du ſoeben, zum erſtenmal eine<lb/> nächtliche Nilfahrt machte, war auch mir die ſonſt ſo<lb/> ſchnelle Zunge wie gelähmt.“</p><lb/> <p>„Jch danke Dir,“ antwortete der Spartaner. „Als<lb/> ich den hundertfünfzig Jahre alten Prieſter Epimenides <hi rendition="#sup">11</hi>)<lb/> von Knoſſos auf Kreta zum erſtenmale ſah, überkam mich<lb/> ein ſeltſamer Schauder, ſeines Alters und ſeiner Heilig-<lb/> keit wegen; wie viel älter, wie viel heiliger aber iſt dieſer<lb/> greiſenhafte Strom Aigyptos <hi rendition="#sup">12</hi>). Wer möchte ſich ſeinem<lb/> Zauber entziehen? Doch ich bitte Dich, mir von Rhodopis<lb/> zu erzählen!“</p><lb/> <p>„Rhodopis,“ begann Phanes, „ward als kleines Kind,<lb/> da ſie eben am thrakiſchen Strande mit ihren Gefährtin-<lb/> nen ſpielte, von phönikiſchen Seefahrern geraubt und nach<lb/> Samos gebracht, woſelbſt ſie Jadmon, ein Geomore <hi rendition="#sup">13</hi>)<lb/> kaufte. Das Mägdlein ward täglich ſchöner, anmuthiger<lb/> und klüger, und bald von Allen, die es kannten, geliebt<lb/> und bewundert.</p><lb/> <p>„Aeſop <hi rendition="#sup">14</hi>), der Thierfabeldichter, welcher damals gleich-<lb/> falls im Sclavendienſte des Jadmon verweilte, freute ſich<lb/> ganz beſonders an der Liebenswürdigkeit und dem Geiſte<lb/> des Kindes. Er belehrte daſſelbe in allen Dingen, und<lb/> ſorgte für Rhodopis, wie ein Pädagogos, den wir Athe-<lb/> ner den Knaben halten. Der gute Lehrer fand eine lenk-<lb/> ſame, ſchnell begreifende Schülerin, und die kleine Scla-<lb/> vin redete, ſang und muſicirte in kurzer Zeit beſſer und<lb/> anmuthiger, als die Söhne des Jadmon, welche auf’s<lb/> Sorgfältigſte erzogen wurden. Jn ihrem vierzehnten Jahre<lb/> war Rhodopis ſo ſchön und vollendet, daß die eiferſüchtige<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [7/0025]
darf. Während der Nilfahrt wollte ich Dir keine Erzäh-
lung aufdrängen. Dieſer alte Strom zwingt mit unbe-
greiflicher Macht zum Schweigen und zur ſtillen Beſchau-
lichkeit. Als ich, wie Du ſoeben, zum erſtenmal eine
nächtliche Nilfahrt machte, war auch mir die ſonſt ſo
ſchnelle Zunge wie gelähmt.“
„Jch danke Dir,“ antwortete der Spartaner. „Als
ich den hundertfünfzig Jahre alten Prieſter Epimenides 11)
von Knoſſos auf Kreta zum erſtenmale ſah, überkam mich
ein ſeltſamer Schauder, ſeines Alters und ſeiner Heilig-
keit wegen; wie viel älter, wie viel heiliger aber iſt dieſer
greiſenhafte Strom Aigyptos 12). Wer möchte ſich ſeinem
Zauber entziehen? Doch ich bitte Dich, mir von Rhodopis
zu erzählen!“
„Rhodopis,“ begann Phanes, „ward als kleines Kind,
da ſie eben am thrakiſchen Strande mit ihren Gefährtin-
nen ſpielte, von phönikiſchen Seefahrern geraubt und nach
Samos gebracht, woſelbſt ſie Jadmon, ein Geomore 13)
kaufte. Das Mägdlein ward täglich ſchöner, anmuthiger
und klüger, und bald von Allen, die es kannten, geliebt
und bewundert.
„Aeſop 14), der Thierfabeldichter, welcher damals gleich-
falls im Sclavendienſte des Jadmon verweilte, freute ſich
ganz beſonders an der Liebenswürdigkeit und dem Geiſte
des Kindes. Er belehrte daſſelbe in allen Dingen, und
ſorgte für Rhodopis, wie ein Pädagogos, den wir Athe-
ner den Knaben halten. Der gute Lehrer fand eine lenk-
ſame, ſchnell begreifende Schülerin, und die kleine Scla-
vin redete, ſang und muſicirte in kurzer Zeit beſſer und
anmuthiger, als die Söhne des Jadmon, welche auf’s
Sorgfältigſte erzogen wurden. Jn ihrem vierzehnten Jahre
war Rhodopis ſo ſchön und vollendet, daß die eiferſüchtige
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