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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864.

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Hier versagte die Stimme des Königs, der nach kurzer
Pause fortfuhr: "Jch fühle, daß es zu Ende geht, darum
will ich von diesen Dingen abbrechen und Dir, mein Sohn
und Nachfolger, meinen letzten Willen aussprechen. Handle
nach demselben, denn die Erfahrung spricht zu Dir! Aber
ach, ich habe in meinem langen Leben hundertfach gesehen,
daß alle Lebensregeln, die Andre uns mit auf den Weg
geben, unnütz sind. Kein Mensch darf für einen zweiten
Erfahrungen machen. Nur durch eigne Verluste wird man
vorsichtig, nur durch eignes Lernen klug! Du besteigst den
Thron in gereiften Jahren, mein Sohn, und hast Zeit
gehabt, über das Rechte und Unrechte, das Heilsame und
Schädliche nachzudenken und Dinge verschiedener Art zu
sehen und zu vergleichen. Darum gebe ich Dir keine all-
gemeinen Lehren, sondern begnüge mich damit, Dir einzelne
heilsame Rathschläge zu ertheilen. --

"Vor Allem magst Du wissen, daß ich in den letzten
Monaten, trotz meiner Blindheit, nur scheinbar theilnahms-
los Deinem Treiben zugesehen und Dir in guter Absicht
freies Spiel gelassen habe. Rhodopis erzählte mir einst
eine Fabel ihres Lehrers Aesop: ,Ein Wandrer begegnete
einem Manne und fragte denselben, wie lange Zeit er
brauchen würde, um bis zur nächsten Stadt zu gelangen.
"Geh' nur, geh'!" rief der Befragte. -- "Jch will aber erst
wissen, wie lange ich laufen muß, um mein Ziel zu er-
reichen!" -- "Geh' nur, geh'!" -- Der Wandrer hielt
den also Redenden für einen groben Menschen und ent-
fernte sich, Verwünschungen ausstoßend. Nachdem er einige
Schritte fortgewandert war, rief ihn der Gescholtene zurück
und sagte: "Du wirst eine Stunde bedürfen, um zur Stadt
zu gelangen. Jch konnte Deine Frage nicht eher richtig
beantworten, als bis ich Deinen Gang gesehn!"'

Hier verſagte die Stimme des Königs, der nach kurzer
Pauſe fortfuhr: „Jch fühle, daß es zu Ende geht, darum
will ich von dieſen Dingen abbrechen und Dir, mein Sohn
und Nachfolger, meinen letzten Willen ausſprechen. Handle
nach demſelben, denn die Erfahrung ſpricht zu Dir! Aber
ach, ich habe in meinem langen Leben hundertfach geſehen,
daß alle Lebensregeln, die Andre uns mit auf den Weg
geben, unnütz ſind. Kein Menſch darf für einen zweiten
Erfahrungen machen. Nur durch eigne Verluſte wird man
vorſichtig, nur durch eignes Lernen klug! Du beſteigſt den
Thron in gereiften Jahren, mein Sohn, und haſt Zeit
gehabt, über das Rechte und Unrechte, das Heilſame und
Schädliche nachzudenken und Dinge verſchiedener Art zu
ſehen und zu vergleichen. Darum gebe ich Dir keine all-
gemeinen Lehren, ſondern begnüge mich damit, Dir einzelne
heilſame Rathſchläge zu ertheilen. —

„Vor Allem magſt Du wiſſen, daß ich in den letzten
Monaten, trotz meiner Blindheit, nur ſcheinbar theilnahms-
los Deinem Treiben zugeſehen und Dir in guter Abſicht
freies Spiel gelaſſen habe. Rhodopis erzählte mir einſt
eine Fabel ihres Lehrers Aeſop: ‚Ein Wandrer begegnete
einem Manne und fragte denſelben, wie lange Zeit er
brauchen würde, um bis zur nächſten Stadt zu gelangen.
„Geh’ nur, geh’!“ rief der Befragte. — „Jch will aber erſt
wiſſen, wie lange ich laufen muß, um mein Ziel zu er-
reichen!“ — „Geh’ nur, geh’!“ — Der Wandrer hielt
den alſo Redenden für einen groben Menſchen und ent-
fernte ſich, Verwünſchungen ausſtoßend. Nachdem er einige
Schritte fortgewandert war, rief ihn der Geſcholtene zurück
und ſagte: „Du wirſt eine Stunde bedürfen, um zur Stadt
zu gelangen. Jch konnte Deine Frage nicht eher richtig
beantworten, als bis ich Deinen Gang geſehn!“‘

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[123/0133] Hier verſagte die Stimme des Königs, der nach kurzer Pauſe fortfuhr: „Jch fühle, daß es zu Ende geht, darum will ich von dieſen Dingen abbrechen und Dir, mein Sohn und Nachfolger, meinen letzten Willen ausſprechen. Handle nach demſelben, denn die Erfahrung ſpricht zu Dir! Aber ach, ich habe in meinem langen Leben hundertfach geſehen, daß alle Lebensregeln, die Andre uns mit auf den Weg geben, unnütz ſind. Kein Menſch darf für einen zweiten Erfahrungen machen. Nur durch eigne Verluſte wird man vorſichtig, nur durch eignes Lernen klug! Du beſteigſt den Thron in gereiften Jahren, mein Sohn, und haſt Zeit gehabt, über das Rechte und Unrechte, das Heilſame und Schädliche nachzudenken und Dinge verſchiedener Art zu ſehen und zu vergleichen. Darum gebe ich Dir keine all- gemeinen Lehren, ſondern begnüge mich damit, Dir einzelne heilſame Rathſchläge zu ertheilen. — „Vor Allem magſt Du wiſſen, daß ich in den letzten Monaten, trotz meiner Blindheit, nur ſcheinbar theilnahms- los Deinem Treiben zugeſehen und Dir in guter Abſicht freies Spiel gelaſſen habe. Rhodopis erzählte mir einſt eine Fabel ihres Lehrers Aeſop: ‚Ein Wandrer begegnete einem Manne und fragte denſelben, wie lange Zeit er brauchen würde, um bis zur nächſten Stadt zu gelangen. „Geh’ nur, geh’!“ rief der Befragte. — „Jch will aber erſt wiſſen, wie lange ich laufen muß, um mein Ziel zu er- reichen!“ — „Geh’ nur, geh’!“ — Der Wandrer hielt den alſo Redenden für einen groben Menſchen und ent- fernte ſich, Verwünſchungen ausſtoßend. Nachdem er einige Schritte fortgewandert war, rief ihn der Geſcholtene zurück und ſagte: „Du wirſt eine Stunde bedürfen, um zur Stadt zu gelangen. Jch konnte Deine Frage nicht eher richtig beantworten, als bis ich Deinen Gang geſehn!“‘

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter03_1864/133>, abgerufen am 26.11.2024.