Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Goethe machte mir Vorwürfe, daß ich eine hiesige
angesehene Familie nicht besucht. "Sie hätten, sagte
er, im Laufe des Winters dort manchen genußreichen
Abend verleben, auch die Bekanntschaft manches bedeu¬
tenden Fremden dort machen können; das ist Ihnen
nun, Gott weiß durch welche Grille, alles verloren
gegangen."

Bey meiner erregbaren Natur, antwortete ich, und
bey meiner Disposition vielseitig Interesse zu nehmen
und in fremde Zustände einzugehen, hätte mir nichts
lästiger und verderblicher seyn können, als eine zu große
Fülle neuer Eindrücke. Ich bin nicht zu Gesellschaften
erzogen und nicht darin hergekommen. Meine frühe¬
ren Lebenszustände waren der Art, daß es mir ist, als
hätte ich erst seit der kurzen Zeit zu leben angefangen,
die ich in Ihrer Nähe bin. Nun ist mir alles neu.
Jeder Theaterabend, jede Unterredung mit Ihnen macht
in meinem Innern Epoche. Was an anders cultivirten
und anders gewöhnten Personen gleichgültig vorübergeht,
ist bey mir im höchsten Grade wirksam; und da die
Begier mich zu belehren groß ist, so ergreift meine
Seele Alles mit einer gewissen Energie und saugt daraus
so viele Nahrung als möglich. Bey solcher Lage mei¬
nes Innern hatte ich daher im Laufe des letzten Win¬
ters am Theater und dem Verkehr mit Ihnen vollkom¬

Goethe machte mir Vorwuͤrfe, daß ich eine hieſige
angeſehene Familie nicht beſucht. „Sie haͤtten, ſagte
er, im Laufe des Winters dort manchen genußreichen
Abend verleben, auch die Bekanntſchaft manches bedeu¬
tenden Fremden dort machen koͤnnen; das iſt Ihnen
nun, Gott weiß durch welche Grille, alles verloren
gegangen.“

Bey meiner erregbaren Natur, antwortete ich, und
bey meiner Dispoſition vielſeitig Intereſſe zu nehmen
und in fremde Zuſtaͤnde einzugehen, haͤtte mir nichts
laͤſtiger und verderblicher ſeyn koͤnnen, als eine zu große
Fuͤlle neuer Eindruͤcke. Ich bin nicht zu Geſellſchaften
erzogen und nicht darin hergekommen. Meine fruͤhe¬
ren Lebenszuſtaͤnde waren der Art, daß es mir iſt, als
haͤtte ich erſt ſeit der kurzen Zeit zu leben angefangen,
die ich in Ihrer Naͤhe bin. Nun iſt mir alles neu.
Jeder Theaterabend, jede Unterredung mit Ihnen macht
in meinem Innern Epoche. Was an anders cultivirten
und anders gewoͤhnten Perſonen gleichguͤltig voruͤbergeht,
iſt bey mir im hoͤchſten Grade wirkſam; und da die
Begier mich zu belehren groß iſt, ſo ergreift meine
Seele Alles mit einer gewiſſen Energie und ſaugt daraus
ſo viele Nahrung als moͤglich. Bey ſolcher Lage mei¬
nes Innern hatte ich daher im Laufe des letzten Win¬
ters am Theater und dem Verkehr mit Ihnen vollkom¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0170" n="150"/>
        </div>
        <div n="2">
          <dateline rendition="#right">Sonntag den 2. May 1824<lb/></dateline>
          <p>Goethe machte mir Vorwu&#x0364;rfe, daß ich eine hie&#x017F;ige<lb/>
ange&#x017F;ehene Familie nicht be&#x017F;ucht. &#x201E;Sie ha&#x0364;tten, &#x017F;agte<lb/>
er, im Laufe des Winters dort manchen genußreichen<lb/>
Abend verleben, auch die Bekannt&#x017F;chaft manches bedeu¬<lb/>
tenden Fremden dort machen ko&#x0364;nnen; das i&#x017F;t Ihnen<lb/>
nun, Gott weiß durch welche Grille, alles verloren<lb/>
gegangen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Bey meiner erregbaren Natur, antwortete ich, und<lb/>
bey meiner Dispo&#x017F;ition viel&#x017F;eitig Intere&#x017F;&#x017F;e zu nehmen<lb/>
und in fremde Zu&#x017F;ta&#x0364;nde einzugehen, ha&#x0364;tte mir nichts<lb/>
la&#x0364;&#x017F;tiger und verderblicher &#x017F;eyn ko&#x0364;nnen, als eine zu große<lb/>
Fu&#x0364;lle neuer Eindru&#x0364;cke. Ich bin nicht zu Ge&#x017F;ell&#x017F;chaften<lb/>
erzogen und nicht darin hergekommen. Meine fru&#x0364;he¬<lb/>
ren Lebenszu&#x017F;ta&#x0364;nde waren der Art, daß es mir i&#x017F;t, als<lb/>
ha&#x0364;tte ich er&#x017F;t &#x017F;eit der kurzen Zeit zu leben angefangen,<lb/>
die ich in Ihrer Na&#x0364;he bin. Nun i&#x017F;t mir alles neu.<lb/>
Jeder Theaterabend, jede Unterredung mit Ihnen macht<lb/>
in meinem Innern Epoche. Was an anders cultivirten<lb/>
und anders gewo&#x0364;hnten Per&#x017F;onen gleichgu&#x0364;ltig voru&#x0364;bergeht,<lb/>
i&#x017F;t bey mir im ho&#x0364;ch&#x017F;ten Grade wirk&#x017F;am; und da die<lb/>
Begier mich zu belehren groß i&#x017F;t, &#x017F;o ergreift meine<lb/>
Seele Alles mit einer gewi&#x017F;&#x017F;en Energie und &#x017F;augt daraus<lb/>
&#x017F;o viele Nahrung als mo&#x0364;glich. Bey &#x017F;olcher Lage mei¬<lb/>
nes Innern hatte ich daher im Laufe des letzten Win¬<lb/>
ters am Theater und dem Verkehr mit Ihnen vollkom¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0170] Sonntag den 2. May 1824 Goethe machte mir Vorwuͤrfe, daß ich eine hieſige angeſehene Familie nicht beſucht. „Sie haͤtten, ſagte er, im Laufe des Winters dort manchen genußreichen Abend verleben, auch die Bekanntſchaft manches bedeu¬ tenden Fremden dort machen koͤnnen; das iſt Ihnen nun, Gott weiß durch welche Grille, alles verloren gegangen.“ Bey meiner erregbaren Natur, antwortete ich, und bey meiner Dispoſition vielſeitig Intereſſe zu nehmen und in fremde Zuſtaͤnde einzugehen, haͤtte mir nichts laͤſtiger und verderblicher ſeyn koͤnnen, als eine zu große Fuͤlle neuer Eindruͤcke. Ich bin nicht zu Geſellſchaften erzogen und nicht darin hergekommen. Meine fruͤhe¬ ren Lebenszuſtaͤnde waren der Art, daß es mir iſt, als haͤtte ich erſt ſeit der kurzen Zeit zu leben angefangen, die ich in Ihrer Naͤhe bin. Nun iſt mir alles neu. Jeder Theaterabend, jede Unterredung mit Ihnen macht in meinem Innern Epoche. Was an anders cultivirten und anders gewoͤhnten Perſonen gleichguͤltig voruͤbergeht, iſt bey mir im hoͤchſten Grade wirkſam; und da die Begier mich zu belehren groß iſt, ſo ergreift meine Seele Alles mit einer gewiſſen Energie und ſaugt daraus ſo viele Nahrung als moͤglich. Bey ſolcher Lage mei¬ nes Innern hatte ich daher im Laufe des letzten Win¬ ters am Theater und dem Verkehr mit Ihnen vollkom¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/170
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/170>, abgerufen am 25.11.2024.