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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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keineswegs etwas Kleines, Enges, Beschränktes;
vielmehr ist es, wenn auch etwas Einfaches, doch
zugleich etwas Umfangreiches, das, gleich den
mannigfaltigen Offenbarungen eines weit und tief
greifenden Naturgesetzes, nicht so leicht zu sagen
ist. Es ist nicht abzuthun durch Spruch, auch
nicht durch Spruch und Spruch, auch nicht durch
Spruch und Widerspruch, sondern man gelangt
durch alles dieses zusammen erst zu Aproximationen,
geschweige zum Ziele selber.

So, um nur ein Beispiel anzuführen, tragen
Goethe's einzelne Äußerungen über Poesie oft den
Schein der Einseitigkeit und oft sogar den Schein
offenbarer Widersprüche. Bald legt er alles Ge¬
wicht auf den Stoff, welchen die Welt giebt,
bald alles auf das Innere des Dichters; bald
soll alles Heil im Gegenstande liegen, bald alles
in der Behandlung: bald soll es von einer voll¬
endeten Form kommen, bald, mit Vernachlässigung
aller Form, alles vom Geiste.

Alle diese Aus- und Widersprüche aber sind
sämmtlich einzelne Seiten des Wahren und bezeich¬

keineswegs etwas Kleines, Enges, Beſchraͤnktes;
vielmehr iſt es, wenn auch etwas Einfaches, doch
zugleich etwas Umfangreiches, das, gleich den
mannigfaltigen Offenbarungen eines weit und tief
greifenden Naturgeſetzes, nicht ſo leicht zu ſagen
iſt. Es iſt nicht abzuthun durch Spruch, auch
nicht durch Spruch und Spruch, auch nicht durch
Spruch und Widerſpruch, ſondern man gelangt
durch alles dieſes zuſammen erſt zu Aproximationen,
geſchweige zum Ziele ſelber.

So, um nur ein Beiſpiel anzufuͤhren, tragen
Goethe's einzelne Äußerungen uͤber Poeſie oft den
Schein der Einſeitigkeit und oft ſogar den Schein
offenbarer Widerſpruͤche. Bald legt er alles Ge¬
wicht auf den Stoff, welchen die Welt giebt,
bald alles auf das Innere des Dichters; bald
ſoll alles Heil im Gegenſtande liegen, bald alles
in der Behandlung: bald ſoll es von einer voll¬
endeten Form kommen, bald, mit Vernachlaͤſſigung
aller Form, alles vom Geiſte.

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[XII/0018] keineswegs etwas Kleines, Enges, Beſchraͤnktes; vielmehr iſt es, wenn auch etwas Einfaches, doch zugleich etwas Umfangreiches, das, gleich den mannigfaltigen Offenbarungen eines weit und tief greifenden Naturgeſetzes, nicht ſo leicht zu ſagen iſt. Es iſt nicht abzuthun durch Spruch, auch nicht durch Spruch und Spruch, auch nicht durch Spruch und Widerſpruch, ſondern man gelangt durch alles dieſes zuſammen erſt zu Aproximationen, geſchweige zum Ziele ſelber. So, um nur ein Beiſpiel anzufuͤhren, tragen Goethe's einzelne Äußerungen uͤber Poeſie oft den Schein der Einſeitigkeit und oft ſogar den Schein offenbarer Widerſpruͤche. Bald legt er alles Ge¬ wicht auf den Stoff, welchen die Welt giebt, bald alles auf das Innere des Dichters; bald ſoll alles Heil im Gegenſtande liegen, bald alles in der Behandlung: bald ſoll es von einer voll¬ endeten Form kommen, bald, mit Vernachlaͤſſigung aller Form, alles vom Geiſte. Alle dieſe Aus- und Widerſpruͤche aber ſind ſaͤmmtlich einzelne Seiten des Wahren und bezeich¬

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. XII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/18>, abgerufen am 21.11.2024.