Abends bey Goethe. Wir sprachen über Klopstock und Herder, und ich hörte ihm gerne zu, wie er die großen Verdienste dieser Männer gegen mich auseinan¬ dersetzte.
"Unsere Literatur, sagte er, wäre ohne diese gewal¬ tigen Vorgänger das nicht geworden, was sie jetzt ist. Mit ihrem Auftreten waren sie der Zeit voran und haben sie gleichsam nach sich gerissen; jetzt aber ist die Zeit ihnen vorangeeilt, und sie, die einst so nothwen¬ dig und wichtig waren, haben jetzt aufgehört Mittel zu seyn. Ein junger Mensch, der heut zu Tage seine Cultur aus Klopstock und Herder ziehen wollte, würde sehr zurückbleiben."
Wir sprachen über Klopstock's Messias und seine Oden und gedachten ihrer Verdienste und Mängel. Wir waren einig, daß Klopstock zur Anschauung und Auf¬ fassung der sinnlichen Welt und Zeichnung von Cha¬ racteren keine Richtung und Anlage gehabt und daß ihm also das Wesentlichste zu einem epischen und dra¬ matischen Dichter, ja man könnte sagen, zu einem Dichter überhaupt, gefehlt habe.
"Mir fällt hier jene Ode ein, sagte Goethe, wo er die deutsche Muse mit der brittischen einen Wettlauf machen läßt, und in der That, wenn man bedenkt,
Dienſtag den 9. November 1824.
Abends bey Goethe. Wir ſprachen uͤber Klopſtock und Herder, und ich hoͤrte ihm gerne zu, wie er die großen Verdienſte dieſer Maͤnner gegen mich auseinan¬ derſetzte.
„Unſere Literatur, ſagte er, waͤre ohne dieſe gewal¬ tigen Vorgaͤnger das nicht geworden, was ſie jetzt iſt. Mit ihrem Auftreten waren ſie der Zeit voran und haben ſie gleichſam nach ſich geriſſen; jetzt aber iſt die Zeit ihnen vorangeeilt, und ſie, die einſt ſo nothwen¬ dig und wichtig waren, haben jetzt aufgehoͤrt Mittel zu ſeyn. Ein junger Menſch, der heut zu Tage ſeine Cultur aus Klopſtock und Herder ziehen wollte, wuͤrde ſehr zuruͤckbleiben.“
Wir ſprachen uͤber Klopſtock's Meſſias und ſeine Oden und gedachten ihrer Verdienſte und Maͤngel. Wir waren einig, daß Klopſtock zur Anſchauung und Auf¬ faſſung der ſinnlichen Welt und Zeichnung von Cha¬ racteren keine Richtung und Anlage gehabt und daß ihm alſo das Weſentlichſte zu einem epiſchen und dra¬ matiſchen Dichter, ja man koͤnnte ſagen, zu einem Dichter uͤberhaupt, gefehlt habe.
„Mir faͤllt hier jene Ode ein, ſagte Goethe, wo er die deutſche Muſe mit der brittiſchen einen Wettlauf machen laͤßt, und in der That, wenn man bedenkt,
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Dienſtag den 9. November 1824.
Abends bey Goethe. Wir ſprachen uͤber Klopſtock
und Herder, und ich hoͤrte ihm gerne zu, wie er die
großen Verdienſte dieſer Maͤnner gegen mich auseinan¬
derſetzte.
„Unſere Literatur, ſagte er, waͤre ohne dieſe gewal¬
tigen Vorgaͤnger das nicht geworden, was ſie jetzt iſt.
Mit ihrem Auftreten waren ſie der Zeit voran und
haben ſie gleichſam nach ſich geriſſen; jetzt aber iſt die
Zeit ihnen vorangeeilt, und ſie, die einſt ſo nothwen¬
dig und wichtig waren, haben jetzt aufgehoͤrt Mittel
zu ſeyn. Ein junger Menſch, der heut zu Tage ſeine
Cultur aus Klopſtock und Herder ziehen wollte, wuͤrde
ſehr zuruͤckbleiben.“
Wir ſprachen uͤber Klopſtock's Meſſias und ſeine
Oden und gedachten ihrer Verdienſte und Maͤngel. Wir
waren einig, daß Klopſtock zur Anſchauung und Auf¬
faſſung der ſinnlichen Welt und Zeichnung von Cha¬
racteren keine Richtung und Anlage gehabt und daß
ihm alſo das Weſentlichſte zu einem epiſchen und dra¬
matiſchen Dichter, ja man koͤnnte ſagen, zu einem
Dichter uͤberhaupt, gefehlt habe.
„Mir faͤllt hier jene Ode ein, ſagte Goethe, wo er
die deutſche Muſe mit der brittiſchen einen Wettlauf
machen laͤßt, und in der That, wenn man bedenkt,
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/185>, abgerufen am 24.11.2024.
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