Riemer kannte schon, wovon die Rede war, und er machte die Bemerkung, daß man nach den obigen Inhalts-An¬ deutungen nicht allein Gedichte machen könne, sondern daß auch jene Motive, ohne sie aus dem Serbischen gekannt zu haben, von deutscher Seite schon wären gebraucht und gebildet worden. Er gedachte hierauf einiger Ge¬ dichte von sich selber, so wie mir während dem Lesen schon einige Gedichte von Goethe eingefallen waren, die ich erwähnte.
"Die Welt bleibt immer dieselbe, sagte Goethe, die Zustände wiederholen sich, das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andere, warum sollte denn der eine Poet nicht wie der andere dichten? Die Situationen des Lebens sind sich gleich, warum sollten denn die Situationen der Gedichte sich nicht gleich seyn?"
Und eben diese Gleichheit des Lebens und der Em¬ pfindungen, sagte Riemer, macht es ja, daß wir im Stande sind, die Poesie anderer Völker zu verstehen. Wäre dieses nicht, so würden wir ja bey ausländischen Gedichten nie wissen, wovon die Rede ist.
Mir sind daher, nahm ich das Wort, immer die Gelehrten höchst seltsam vorgekommen, welche die Mei¬ nung zu haben scheinen, das Dichten geschehe nicht vom Leben zum Gedicht, sondern vom Buche zum Ge¬ dicht. Sie sagen immer: das hat er dort her und das dort! -- Finden sie z. B. beym Shakspeare Stellen, die bey den Alten auch vorkommen, so soll er es auch
Riemer kannte ſchon, wovon die Rede war, und er machte die Bemerkung, daß man nach den obigen Inhalts-An¬ deutungen nicht allein Gedichte machen koͤnne, ſondern daß auch jene Motive, ohne ſie aus dem Serbiſchen gekannt zu haben, von deutſcher Seite ſchon waͤren gebraucht und gebildet worden. Er gedachte hierauf einiger Ge¬ dichte von ſich ſelber, ſo wie mir waͤhrend dem Leſen ſchon einige Gedichte von Goethe eingefallen waren, die ich erwaͤhnte.
„Die Welt bleibt immer dieſelbe, ſagte Goethe, die Zuſtaͤnde wiederholen ſich, das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andere, warum ſollte denn der eine Poet nicht wie der andere dichten? Die Situationen des Lebens ſind ſich gleich, warum ſollten denn die Situationen der Gedichte ſich nicht gleich ſeyn?“
Und eben dieſe Gleichheit des Lebens und der Em¬ pfindungen, ſagte Riemer, macht es ja, daß wir im Stande ſind, die Poeſie anderer Voͤlker zu verſtehen. Waͤre dieſes nicht, ſo wuͤrden wir ja bey auslaͤndiſchen Gedichten nie wiſſen, wovon die Rede iſt.
Mir ſind daher, nahm ich das Wort, immer die Gelehrten hoͤchſt ſeltſam vorgekommen, welche die Mei¬ nung zu haben ſcheinen, das Dichten geſchehe nicht vom Leben zum Gedicht, ſondern vom Buche zum Ge¬ dicht. Sie ſagen immer: das hat er dort her und das dort! — Finden ſie z. B. beym Shakſpeare Stellen, die bey den Alten auch vorkommen, ſo ſoll er es auch
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Riemer kannte ſchon, wovon die Rede war, und er machte
die Bemerkung, daß man nach den obigen Inhalts-An¬
deutungen nicht allein Gedichte machen koͤnne, ſondern daß
auch jene Motive, ohne ſie aus dem Serbiſchen gekannt
zu haben, von deutſcher Seite ſchon waͤren gebraucht
und gebildet worden. Er gedachte hierauf einiger Ge¬
dichte von ſich ſelber, ſo wie mir waͤhrend dem Leſen
ſchon einige Gedichte von Goethe eingefallen waren, die
ich erwaͤhnte.
„Die Welt bleibt immer dieſelbe, ſagte Goethe, die
Zuſtaͤnde wiederholen ſich, das eine Volk lebt, liebt
und empfindet wie das andere, warum ſollte denn der
eine Poet nicht wie der andere dichten? Die Situationen
des Lebens ſind ſich gleich, warum ſollten denn die
Situationen der Gedichte ſich nicht gleich ſeyn?“
Und eben dieſe Gleichheit des Lebens und der Em¬
pfindungen, ſagte Riemer, macht es ja, daß wir im
Stande ſind, die Poeſie anderer Voͤlker zu verſtehen.
Waͤre dieſes nicht, ſo wuͤrden wir ja bey auslaͤndiſchen
Gedichten nie wiſſen, wovon die Rede iſt.
Mir ſind daher, nahm ich das Wort, immer die
Gelehrten hoͤchſt ſeltſam vorgekommen, welche die Mei¬
nung zu haben ſcheinen, das Dichten geſchehe nicht
vom Leben zum Gedicht, ſondern vom Buche zum Ge¬
dicht. Sie ſagen immer: das hat er dort her und das
dort! — Finden ſie z. B. beym Shakſpeare Stellen,
die bey den Alten auch vorkommen, ſo ſoll er es auch
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/210>, abgerufen am 21.11.2024.
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