klar übersieht, gegen den befangenen Leser bey weitem im Vortheil.
Goethe gab mir Recht und lachte dann über Lord Byron, daß Er, der sich im Leben nie gefügt und der nie nach einem Gesetz gefragt, sich endlich dem dümm¬ sten Gesetz der drey Einheiten unterworfen habe. "Er hat den Grund dieses Gesetzes so wenig verstanden, sagte er, als die übrige Welt. Das Faßliche ist der Grund, und die drey Einheiten sind nur in so fern gut, als dieses durch sie erreicht wird. Sind sie aber dem Faßlichen hinderlich, so ist es immer unverständig sie als Gesetz betrachten und befolgen zu wollen. Selbst die Griechen, von denen diese Regel ausging, haben sie nicht immer befolgt; im Phaethon des Euripides und in andern Stücken wechselt der Ort, und man sieht also, daß die gute Darstellung ihres Gegenstandes ihnen mehr galt als der blinde Respect vor einem Gesetz, das an sich nie viel zu bedeuten hatte. Die Shakspear'schen Stücke gehen über die Einheit der Zeit und des Orts so weit hinaus als nur möglich; aber sie sind faßlich, es ist nichts faßlicher als sie, und deßhalb würden auch die Griechen sie untadelig finden. Die französischen Dichter haben dem Gesetz der drey Einheiten am streng¬ sten Folge zu leisten gesucht, aber sie sündigen gegen das Faßliche, indem sie ein dramatisches Gesetz nicht dramatisch lösen, sondern durch Erzählung."
Ich dachte hiebey an die Feinde von Houwald,
klar uͤberſieht, gegen den befangenen Leſer bey weitem im Vortheil.
Goethe gab mir Recht und lachte dann uͤber Lord Byron, daß Er, der ſich im Leben nie gefuͤgt und der nie nach einem Geſetz gefragt, ſich endlich dem duͤmm¬ ſten Geſetz der drey Einheiten unterworfen habe. „Er hat den Grund dieſes Geſetzes ſo wenig verſtanden, ſagte er, als die uͤbrige Welt. Das Faßliche iſt der Grund, und die drey Einheiten ſind nur in ſo fern gut, als dieſes durch ſie erreicht wird. Sind ſie aber dem Faßlichen hinderlich, ſo iſt es immer unverſtaͤndig ſie als Geſetz betrachten und befolgen zu wollen. Selbſt die Griechen, von denen dieſe Regel ausging, haben ſie nicht immer befolgt; im Phaëthon des Euripides und in andern Stuͤcken wechſelt der Ort, und man ſieht alſo, daß die gute Darſtellung ihres Gegenſtandes ihnen mehr galt als der blinde Reſpect vor einem Geſetz, das an ſich nie viel zu bedeuten hatte. Die Shakſpear'ſchen Stuͤcke gehen uͤber die Einheit der Zeit und des Orts ſo weit hinaus als nur moͤglich; aber ſie ſind faßlich, es iſt nichts faßlicher als ſie, und deßhalb wuͤrden auch die Griechen ſie untadelig finden. Die franzoͤſiſchen Dichter haben dem Geſetz der drey Einheiten am ſtreng¬ ſten Folge zu leiſten geſucht, aber ſie ſuͤndigen gegen das Faßliche, indem ſie ein dramatiſches Geſetz nicht dramatiſch loͤſen, ſondern durch Erzaͤhlung.“
Ich dachte hiebey an die Feinde von Houwald,
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[201/0221]
klar uͤberſieht, gegen den befangenen Leſer bey weitem
im Vortheil.
Goethe gab mir Recht und lachte dann uͤber Lord
Byron, daß Er, der ſich im Leben nie gefuͤgt und der
nie nach einem Geſetz gefragt, ſich endlich dem duͤmm¬
ſten Geſetz der drey Einheiten unterworfen habe.
„Er hat den Grund dieſes Geſetzes ſo wenig verſtanden,
ſagte er, als die uͤbrige Welt. Das Faßliche iſt der
Grund, und die drey Einheiten ſind nur in ſo fern gut,
als dieſes durch ſie erreicht wird. Sind ſie aber dem
Faßlichen hinderlich, ſo iſt es immer unverſtaͤndig ſie
als Geſetz betrachten und befolgen zu wollen. Selbſt
die Griechen, von denen dieſe Regel ausging, haben ſie
nicht immer befolgt; im Phaëthon des Euripides und
in andern Stuͤcken wechſelt der Ort, und man ſieht
alſo, daß die gute Darſtellung ihres Gegenſtandes ihnen
mehr galt als der blinde Reſpect vor einem Geſetz, das
an ſich nie viel zu bedeuten hatte. Die Shakſpear'ſchen
Stuͤcke gehen uͤber die Einheit der Zeit und des Orts
ſo weit hinaus als nur moͤglich; aber ſie ſind faßlich,
es iſt nichts faßlicher als ſie, und deßhalb wuͤrden auch
die Griechen ſie untadelig finden. Die franzoͤſiſchen
Dichter haben dem Geſetz der drey Einheiten am ſtreng¬
ſten Folge zu leiſten geſucht, aber ſie ſuͤndigen gegen
das Faßliche, indem ſie ein dramatiſches Geſetz nicht
dramatiſch loͤſen, ſondern durch Erzaͤhlung.“
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/221>, abgerufen am 21.11.2024.
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