bey welchem Drama der Verfasser sich auch sehr im Lichte stand, indem er, um die Einheit des Orts zu bewahren, im ersten Act dem Faßlichen schadete und überhaupt eine mögliche größere Wirkung seines Stückes einer Grille opferte, die ihm niemand Dank weiß. Da¬ gegen dachte ich auch an den Götz von Berlichingen, welches Stück über die Einheit der Zeit und des Orts so weit hinausgeht als nur immer möglich; aber auch so in der Gegenwart sich entwickelnd, alles vor die un¬ mittelbare Anschauung bringend, und daher so echt dra¬ matisch und faßlich ist als nur irgend ein Stück in der Welt. Auch dachte ich, daß die Einheit der Zeit und des Orts dann natürlich und im Sinne der Griechen wäre, wenn ein Factum so wenig Umfang habe, daß es sich in gehöriger Zeit vor unsern Augen im Detail entwickeln könne; daß aber bey einer großen, durch ver¬ schiedene Orte sich machenden Handlung kein Grund sey, solche auf einen Ort beschränken zu wollen, um so¬ weniger als bey unseren jetzigen Bühnen zu beliebiger Verwandlung der Scene durchaus kein Hinderniß im Wege stehe.
Goethe fuhr über Lord Byron zu reden fort: "Sei¬ nem stets ins Unbegrenzte strebenden Naturell, sagte er, steht jedoch die Einschränkung, die er sich durch Beob¬ achtung der drey Einheiten auflegte, sehr wohl. Hätte er sich doch auch im Sittlichen so zu begrenzen gewußt! Daß er dieses nicht konnte, war sein Verderben, und es
bey welchem Drama der Verfaſſer ſich auch ſehr im Lichte ſtand, indem er, um die Einheit des Orts zu bewahren, im erſten Act dem Faßlichen ſchadete und uͤberhaupt eine moͤgliche groͤßere Wirkung ſeines Stuͤckes einer Grille opferte, die ihm niemand Dank weiß. Da¬ gegen dachte ich auch an den Goͤtz von Berlichingen, welches Stuͤck uͤber die Einheit der Zeit und des Orts ſo weit hinausgeht als nur immer moͤglich; aber auch ſo in der Gegenwart ſich entwickelnd, alles vor die un¬ mittelbare Anſchauung bringend, und daher ſo echt dra¬ matiſch und faßlich iſt als nur irgend ein Stuͤck in der Welt. Auch dachte ich, daß die Einheit der Zeit und des Orts dann natuͤrlich und im Sinne der Griechen waͤre, wenn ein Factum ſo wenig Umfang habe, daß es ſich in gehoͤriger Zeit vor unſern Augen im Detail entwickeln koͤnne; daß aber bey einer großen, durch ver¬ ſchiedene Orte ſich machenden Handlung kein Grund ſey, ſolche auf einen Ort beſchraͤnken zu wollen, um ſo¬ weniger als bey unſeren jetzigen Buͤhnen zu beliebiger Verwandlung der Scene durchaus kein Hinderniß im Wege ſtehe.
Goethe fuhr uͤber Lord Byron zu reden fort: „Sei¬ nem ſtets ins Unbegrenzte ſtrebenden Naturell, ſagte er, ſteht jedoch die Einſchraͤnkung, die er ſich durch Beob¬ achtung der drey Einheiten auflegte, ſehr wohl. Haͤtte er ſich doch auch im Sittlichen ſo zu begrenzen gewußt! Daß er dieſes nicht konnte, war ſein Verderben, und es
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bewahren, im erſten Act dem Faßlichen ſchadete und
uͤberhaupt eine moͤgliche groͤßere Wirkung ſeines Stuͤckes
einer Grille opferte, die ihm niemand Dank weiß. Da¬
gegen dachte ich auch an den Goͤtz von Berlichingen,
welches Stuͤck uͤber die Einheit der Zeit und des Orts
ſo weit hinausgeht als nur immer moͤglich; aber auch
ſo in der Gegenwart ſich entwickelnd, alles vor die un¬
mittelbare Anſchauung bringend, und daher ſo echt dra¬
matiſch und faßlich iſt als nur irgend ein Stuͤck in der
Welt. Auch dachte ich, daß die Einheit der Zeit und
des Orts dann natuͤrlich und im Sinne der Griechen
waͤre, wenn ein Factum ſo wenig Umfang habe, daß
es ſich in gehoͤriger Zeit vor unſern Augen im Detail
entwickeln koͤnne; daß aber bey einer großen, durch ver¬
ſchiedene Orte ſich machenden Handlung kein Grund ſey,
ſolche auf einen Ort beſchraͤnken zu wollen, um ſo¬
weniger als bey unſeren jetzigen Buͤhnen zu beliebiger
Verwandlung der Scene durchaus kein Hinderniß im
Wege ſtehe.
Goethe fuhr uͤber Lord Byron zu reden fort: „Sei¬
nem ſtets ins Unbegrenzte ſtrebenden Naturell, ſagte er,
ſteht jedoch die Einſchraͤnkung, die er ſich durch Beob¬
achtung der drey Einheiten auflegte, ſehr wohl. Haͤtte
er ſich doch auch im Sittlichen ſo zu begrenzen gewußt!
Daß er dieſes nicht konnte, war ſein Verderben, und es
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/222>, abgerufen am 24.11.2024.
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